Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Holger Dahl
ihren Schwerpunkt aber unter dem Begriff der Veränderung der Betriebsorganisation haben.
cc) Einführung neuer Fertigungsverfahren
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Der Begriff der „Fertigungsverfahren“ meint das technische Verfahren bei der Verfolgung des arbeitstechnischen Zwecks. Er ist gleichbedeutend mit dem Begriff der Fabrikationsmethode in § 106 Abs. 3 Nr. 5 BetrVG.152 Der Begriff der „Fabrikationsmethode“ wiederum beschreibt das planmäßige Vorgehen bei der Gütererzeugung, also den Ablauf unter technischen Gesichtspunkten.153 Der Begriff des Fertigungsverfahrens ist also das technische Pendant zum arbeitswissenschaftlichen Begriff der Arbeitsmethode.
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Damit ist die Abgrenzung oft schwierig und manche Beispiele zu Arbeitsmethoden könnte man auch unter Fertigungsverfahren oder auch bereits unter Betriebsorganisationsänderungen diskutieren. Klassische Fragen des Fertigungsverfahrens sind die, ob Einzel- oder Massenfertigung stattfindet, ob Roboter zum Einsatz kommen oder nicht.154 Hierher gehören aber auch Veränderungen im Hinblick auf Crowdworking. Die über Plattformen eingebundenen Tätigkeiten oder Teilprodukte des Crowdworking werden ja in den Wertschöpfungsprozess reintegriert.155 Auch die Einführung von Kaizen, Kanban und SMED kommt in Betracht, ist jedoch primär bei der Änderung der Betriebsorganisation zu verorten (siehe oben Rn. 140).156 Zunehmend relevant wird auch Robotic Process Automation (RPA), also die automatisierte Bearbeitung von strukturierten Geschäftsprozessen durch digitale Software-Roboter.
3. Die allgemeine Betriebsänderung nach der Generalklausel des § 111 Satz 1 BetrVG
a) Generalklausel
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Wie eingangs bereits ausgeführt, sind die in § 111 Satz 3 BetrVG aufgeführten Beispiele oder Katalogtatbestände nicht abschließend. Auch wenn kein Tatbestand des Satz 3 vorliegt, kann immer noch eine Betriebsänderung nach Satz 1 gegeben sein. Die Generalklausel des Satzes 1 ist ein Auffangtatbestand.157
b) Einschneidende Änderung
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Das BAG definiert Betriebsänderung i.S.v. § 111 Satz 1 BetrVG als „grundsätzlich jede Änderung der betrieblichen Organisation, der Struktur, des Tätigkeitsbereichs, der Arbeitsweise, der Fertigung oder des Standorts, sofern sie wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile derselben zur Folge haben kann“.158
c) Wesentliche Nachteile
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Ob die Betriebsänderung wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder wesentliche Teile der Belegschaft zur Folge haben kann, wird hier aber nicht mehr fingiert bzw. unwiderleglich vermutet (siehe oben Rn. 83), sondern muss im Einzelnen dargelegt werden. Dabei ist aber zu beachten, dass die Nachteile nach dem Wortlaut des § 111 Satz 1 BetrVG nur vorliegen können müssen. Koch159 schreibt, es genüge die Möglichkeit, Däubler,160 es reiche eine nicht ganz fern liegende Gefahr. Etwas klarer und handhabbarer wird es, wenn man ergänzend richtigerweise feststellt, dass die Möglichkeit des Eintritts erst dann zu verneinen ist, wenn „sichere Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Betriebsänderung nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge nicht mit dem Eintritt von Nachteilen verbunden ist“.161 Die potenziellen Nachteile müssen Folge der Betriebsänderung sein, wobei auch ein mittelbarer Zusammenhang genügt.162
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Zu beachten ist hier, dass, anders als bei der grundsätzlichen Inhaltsbestimmung des Sozialplans nach § 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG, nicht der Begriff der wirtschaftlichen Nachteile benutzt wird, sondern der Begriff der Nachteile an sich. Damit sind sowohl Nachteile materieller wie auch immaterieller Art zu werten.163 Materielle Nachteile sind z.B. der Verlust des Arbeitsplatzes, Verdiensteinbußen oder höhere Fahrtkosten.164 Immaterielle Nachteile sind z.B. Leistungsverdichtungen, drohende Qualifikationsverluste oder Belastungen durch zusätzliche Kontrollen.165 Es kommen auch psychische Belastungen durch ein schlechteres Betriebsklima in Betracht.166 Die Wesentlichkeit der Nachteile ist zu bejahen, wenn sie nicht nach einer gewissen Einarbeitung wieder verschwinden.167
d) Mindestbetroffenheit erheblicher Teile der Belegschaft
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Die potenziellen Nachteile müssen die gesamte Belegschaft oder zumindest erhebliche Teile derselben betreffen. Die Bestimmung des „erheblichen Teils“ erfolgt, wie bereits bei § 111 Satz 3 Ziff. 1 BetrVG unter Anlehnung an die Zahlenwerte des § 17 KSchG, korrigiert um die Mindestquote von 5 % bei größeren Betrieben.168 Leiharbeitnehmer sind Teil der Belegschaft, da sie Arbeitsplätze besetzen, was wiederum prägend für den Betrieb ist. Falsch wäre es daher, den Abbau oder die Veränderung von entsprechenden Arbeitsplätzen außer Acht zu lassen (siehe zur Diskussion bereits oben Rn. 75ff. und 108ff.). Genauso wenig darf das Auslaufenlassen befristeter Beschäftigung auf Dauerarbeitsplätzen unberücksichtigt gelassen werden.169
e) Anwendungsfälle
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Nachdem es sich hier um eine Generalklausel handelt, sind die möglichen Anwendungsfälle natürlich vielgestaltig. Oft wird man Elemente der oben genannten Katalogtatbestände vorfinden, die für sich genommen aber die jeweilige Relevanzschwelle nicht erreichen. Treffen dann zwei oder mehr solcher Elemente zusammen, kann dies gemeinsam (Gesamtschau) zu einer interessenausgleichs- und sozialplanpflichtigen Betriebsänderung führen. Andererseits kann man auch unabhängig von den Katalogtatbeständen die Anzahl von materiellen oder immateriellen Nachteilen für die Betroffenen bestimmen. Werden die an § 17 KSchG orientierten Werte (siehe oben Rn. 103ff.) erreicht, ist die Umstrukturierungsmaßnahme eine interessenausgleichs- und sozialplanpflichtige Betriebsänderung. Auf die Frage, ob die Nachteile am Ende wirklich eintreten, kommt es nicht an.170
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Wenn z.B. ein nicht wesentlicher Betriebsteil stillgelegt oder eingeschränkt wird und dies Nachteile auch für andere Beschäftigte hat oder eine Reduzierung des Arbeitszeitvolumens erfolgt, bei Erwartung gleicher Arbeitsleistung wie bisher, wäre kein Katalogtatbestand erfüllt, aber doch Satz 1.171
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Entgegen der h.M.172 ist auch ein Betriebsübergang als solcher als Betriebsänderung zu werten.173 Ein Betriebsübergang lässt zwar den Arbeitsvertragsinhalt unberührt, führt aber wegen Austauschs des Vertragspartners zu einer wesentlichen Veränderung der Arbeitsverträge i.S.d. Art. 4 Abs. 2 lit. c der RL 2002/14/EG und löst die in Art. 4 Abs. 3 und 4 der RL 2002/14/EG dargestellten Anhörungs- und Unterrichtungspflichten aus. § 111 BetrVG wiederum ist zwar nicht in Umsetzung der RL 2002/14/EG erlassen worden, gleichwohl ist sie richtlinienkonform als interessenausgleichspflichtige Maßnahme auszulegen. Auch führt die Eingliederung eines Betriebs in ein neues Unternehmen bei vermeintlicher Aufrechterhaltung sämtlicher Strukturen in der Praxis sehr wohl zu Veränderungen in Abläufen, die jedoch nur schwer greifbar und nachweisbar sind. Unstreitig ist jedoch, dass mit einem Betriebsübergang Maßnahmen einhergehen können, die unter anderen Gesichtspunkten als interessenausgleichs- und sozialplanpflichtige Betriebsänderungen gelten.174
1 Vgl. § 17 MTV Privates Bankgewerbe. 2 Vgl. Däubler, in: Däubler/Klebe/Wedde, BetrVG, § 111 Rn. 46. 3 Däubler, in: Däubler/Klebe/Wedde, BetrVG, § 111 Rn. 48; BT-Drs. 14/5741, S. 519. 4 BAG, 15.1.1991 – 1 AZR 94/90, Aus den Gründen I. 2., AP Nr. 21 zu § 113 BetrVG 1972; Däubler, in: Däubler/Klebe/Wedde,