Arbeitgeberattraktivität: Die Rolle von Work-Life-Balance und flexiblen Arbeitszeitmodellen. Carina Stiglbauer
als Ermöglichung der Vornahme von Betreuungspflichten (Boiarintseva & Richardson, 2019, S. 871) und auch die Organisationsforscher haben sich in den letzten Jahrzehnten primär auf den Bereich Arbeit und Familie konzentriert (Keeney et al., 2013, S. 221). Jedoch verstehen viele Befragte in der Studie von Boiarintseva und Richardson (2019, S. 871) Work-Life-Balance als ein breiteres Spektrum von Aktivitäten, welches etwa auch Hobbies, Sport oder Teilnahme an gesellschaftlichen Treffen einschließt. Zu den nicht-beruflichen Aufgaben gehören gemäß Keeney et al. (2013, S. 224) nicht nur die Familie, sondern auch Aktivitäten, die mit der Gesundheit einer Person, der Bildung, dem Engagement in der Gemeinschaft, Freizeitaktivitäten und Freundschaften verbunden sind.
3.3 Work-Life-Balance im juristischen Bereich
Obwohl die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für alle Gruppen von Arbeitnehmern ein Problem darstellt, stehen hochgebildete Fach- und Führungskräfte vor besonderen Herausforderungen (Wharton & Blair-Loy, 2002, S. 33). Obwohl bereits 1999 relativ wenige Rechtsanwälte in Amerika in einer Teilzeitanstellung tätig waren, erkannte Epstein (1999, S. 3) bereits damals, dass die neuen Generationen den Druck, den die Anwaltskarriere verbunden mit Heim, Kindern und privaten Vergnügen bedeutet, nicht länger hinnehmen wollen. Die jüngeren Generationen wollen das Arbeitsmuster der Vergangenheit vermeiden. Zeit ist zu einem wichtigen Gut geworden, dessen Wert vielleicht sogar schon über den von Geld gestellt wird (Epstein, 1999, S. 25). Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass der Lebensabschnitt, in dem eine Karriere aufgebaut wird, mit den Jahren der Kindererziehung zusammenfällt. So finden die kritischen Jahre im Beruf eines Rechtsanwalts, wie die Beförderung zu leitenden Positionen gleichzeitig mit der Heirat und der Gründung einer Familie zusammen (Epstein, 1999, S. 11). Rechtsanwälte seien darauf angewiesen, dass ihre Ehefrauen den Haushalt und die Kindererziehung übernehmen, doch hätten sich diese Zeiten geändert. Nicht nur mehr Rechtsanwältinnen kämpften damit, Beruf und Familie zu vereinbaren, auch immer mehr Rechtsanwälte hätten Ehefrauen, die selbst ihre eigenen Arbeitsverpflichtungen nachkommen müssten. Darüber hinaus sehen auch kulturelle Aspekte vor, dass beide Elternteile in der Erziehung ihrer Kinder involviert sein sollten (Epstein, 1999, S. 11).
Auch ist es ein weitreichendes Phänomen, dass Frauen sich entscheiden, die Anwaltei zu verlassen. Zum Beispiel ist in Indien die Zahl von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen zu Beginn der beruflichen Karriere noch etwa gleich, die Anzahl von Frauen nimmt jedoch mit zunehmendem Aufstieg in der Hierarchie progressiv ab (Kannan, 2013, S. 16). Auch in Amerika entscheiden sich viele Frauen, der Anwaltei den Rücken zu kehren und in In-House-Positionen zu arbeiten, da die Arbeitszeiten in Unternehmen kürzer und vorhersehbarer sind. Auf den oberen Etagen der juristischen Berufe sind Frauen nach wie vor unverhältnismäßig unterrepräsentiert (Epstein, 1999, S. 13f). In Österreich zeigt sich Ende 2020 ein ähnliches Bild: Ist das Verhältnis zwischen Rechtsanwaltsanwärterinnen und Rechtsanwaltsanwärtern noch etwa 50:50, sind lediglich 23 % der eingetragenen Rechtsanwälte weiblich (https://www.rechtsanwaelte.at/kammer/kammer-in-zahlen/mitglieder/).
Nicht nur Frauen, sondern auch Männer haben zunehmend Probleme mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Lange Arbeitszeiten sind grundsätzlich für den ganzen Berufsstand der Rechtsanwälte Standard. Je prestigeträchtiger die Anwaltskanzlei, desto mehr Stunden müssen sie arbeiten, um die Bedürfnisse ihrer Mandaten zu erfüllen (Epstein, 1999, S. 22). Boiarintseva und Richardson (2019, S. 869ff) befragten in ihrer Studie zehn männliche Rechtsanwälte in Kanada, um die Erfahrung von Männern mit Work-Life-Balance in männlich dominierten leistungsfähigen Industrien zu untersuchen. Die Ausführungen der befragten Männer waren sehr ähnlich. Das Ergebnis war, dass es für Anwälte aufgrund der Erwartungen und Verhaltensnormen der Industrie und der Berufswelt sehr schwierig, oft sogar unmöglich ist, Work-Life-Balance zu leben. Einige der Befragten empfanden dies als problematisch, andere sahen dies als Teil ihres Jobs. Alle Studienteilnehmer gaben an, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht besser, sondern immer schlechter wird. Als Gründe dafür nannten sie mehr Wettbewerb und weniger Arbeitsplatzsicherheit im Rechtsberuf (Boiarintseva & Richardson, 2019, S. 873).
Um dem Abhilfe zu verschaffen, verlangen einige Gesetze in verschiedenen Staaten, wie etwa der Family and Medical Leave Act von 1993 in den USA, von großen Anwaltskanzleien ein gewisses Maß an Flexibilität (Hitt et al., 2007, S. 23). Arbeitnehmer haben nach diesem Gesetz unter gewissen Voraussetzungen einen Anspruch auf bis zu zwölf Wochen unbezahlte Abwesenheit während eines zwölfmonatigen Zeitraums. Dieses Recht besteht zum Beispiel dann, wenn die Abwesenheit aufgrund der Geburt oder Adoption eines Kindes beantragt wird, wird aber dahingehend eingeschränkt, dass sie nur jenen Personen zusteht, die in einem Unternehmen mit mindestens 50 Beschäftigten arbeiten (Family and Medical Leave Act of 1993). In Österreich haben Frauen, die dem Mutterschutzgesetz 1979, und Männer, die dem Väter-Karenzgesetz unterliegen, viele Rechte, wie unter anderem das Beschäftigungsverbot werdender Mütter, Karenz und Elternteilzeit sowie einen erhöhten Kündigungs- und Entlassungsschutz während dieser Zeiträume. Diese Gesetze gewähren einen Schutz für Personen, die in juristischen Positionen in Unternehmen oder Rechtsanwaltskanzleien angestellt sind. Selbständig Tätige unterliegen jedoch naturgemäß nicht diesen Gesetzen und genießen daher diese Möglichkeiten und diesen Schutz nicht.
3.4 Gründe für einen Mangel an Work-Life-Balance mit dem Fokus auf juristische Berufe
Gründe für mangelnde Work-Life-Balance sind vielfältig. Ein wesentlicher ist übermäßig lange Arbeitszeit und damit einhergehende Faktoren, die zu Konflikten zwischen beruflichen und außerberuflichen Aktivitäten und Rollenbildern führen (Walsh, 2019, S. 392). Auch problematisch ist in der Anwaltei das Fehlen von Autonomie zu entscheiden, wann, wie und wie viel täglich gearbeitet wird, was die Grenzen zwischen Arbeits- und Nicht-Arbeitszeiten in der Anwaltei verschwimmen lässt. Dadurch wird Work-Life-Balance in der Anwaltsbranche als besonders herausfordernd angesehen (Boiarintseva & Richardson, 2019, S. 872).
Die Gründe für die Veränderung der Arbeitszeiten und somit die Zunahme an Jobs mit sehr langen Arbeitszeiten sind struktureller Natur; sie sind das Ergebnis weitreichender Veränderungen im globalen wirtschaftlichen Umfeld und zwar einen erhöhten Wettbewerbsdruck, kulturelle Verschiebungen und erheblich verbesserte Kommunikationstechnologien (Hewlett & Luce, 2006, S. 52). Auch praktisch alle Befragten in der Studie von Boiarintseva und Richardson (2019, S. 872) gaben an, dass es den Anforderungen der Rechtsanwaltsbranche und ihrem stark wettbewerbsorientierten Arbeitsumfeld geschuldet ist, dass sie in dieser Branche ihr Privat- und Berufsleben nicht vereinbaren können. Zudem wird der Leistungsdruck innerhalb der Anwaltsbranche durch die zunehmende Besorgnis, dass Technologie gewisse Bereiche des Anwaltsberufs ersetzen wird, noch erhöht (Simpson, 2016, S. 50). Wharton und Blair-Loy (2002, S. 33) führen die langen Arbeitszeiten auch auf die abnehmende Arbeitsplatzsicherheit zurück. Auch sehen sie einen Grund darin, dass der Fokus auf die individuelle Leistung für Fragen der Entlohnung und Beförderung gelegt wird und weniger auf Seniorität geschaut wird.
Lange Arbeitstage sind vor allem für Personen mit höheren Einkommen in Industriestaaten, insbesondere bei leitenden, qualifizierten und fachkundigen Arbeitnehmern sehr häufig (Walsh, 2019, S. 387f). Diese arbeiten härter als früher, womit die 40-Stunden-Woche der Vergangenheit angehört und sogar die 60-Stunden-Woche oft überschritten wird. Jobs mit sehr langen Arbeitszeiten stellen somit keine Seltenheit dar (Hewlett & Luce, 2006, S. 51). In einer 2008 durchgeführten Studie von Perlow und Porter (2009, S. 102) wurden 1.000 Mitarbeiter im professionellen Dienstleistungssektor befragt. 94 % von ihnen gaben an, dass sie wöchentlich mindestens 50 Stunden arbeiten; die Hälfte dieser Gruppe sprach sogar von einer mindestens 65-Stunden-Woche. Des Weiteren ergaben die Daten, dass sie zusätzlich 20 bis 25 Stunden die Woche damit verbringen, ihre BlackBerrys zu kontrollieren und fast immer innerhalb einer Stunde auf E-Mails von Kollegen oder Klienten antworten.
Einen enormen Anstieg des Arbeitsdrucks für hochkarätige Fachkräfte aller Altersgruppen, Geschlechter, Sektoren und Kontinente zeigen auch die Daten von Hewlett und Luce (2006, S. 51). Obwohl die Überstunden-Kultur bei Management und Fachkräftepositionen in vielen Industrieländern weit verbreitet ist, findet sich diese besonders in den Vereinigten Staaten. „Amerikanische Praktiken“ außerhalb von den Vereinigten Staaten könnten