Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union. Klaus-Dieter Borchardt
Besitzstandes gehört. Die rechtlichen Verpflichtungen, die sich aus der Übernahme des Besitzstandes ergeben, müssen vor Aufnahme der Verhandlungen über die betreffenden Kapitel erfüllt sein. Hier können sich längere Übergangszeiträume als notwendig erweisen. In Bezug auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zieht die Kommission unbefristete Schutzklauseln in Betracht. Außerdem ist der Beitritt der Türkei mit einschneidenden finanziellen und institutionellen Konsequenzen verbunden, die vor dem Abschluss der Beitrittsverhandlungen einer konkreten Lösung zugeführt sein müssen. Die dritte Säule sieht einen wesentlich verstärkten politischen und kulturellen Dialog zwischen den Völkern der Mitgliedstaaten der EU und der Türkei vor. In diesem Dialog geht es um kulturelle und religiöse Unterschiede, um Migrationsfragen, Probleme im Zusammenhang mit den Minderheitenrechten und um Terrorismus. Das Endziel dieser Verhandlungen ist der Beitritt. Allerdings besteht keine Garantie dafür, dass dieses Ziel auch erreicht wird. Das im Jahre 1999 anvisierte Datum für einen möglichen Beitritt im Jahre 2014 ist verstrichen und es wurde keine neue Zeitlinie vorgegeben38. Zudem hat sich die Türkei in den letzten Jahren erheblich von der EU wegbewegt, vor allem in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz. Nur bei einer Umkehr dieser negativen Tendenzen ist die Fortführung der Beitrittsverhandlungen realistisch.
c) Potentielle Kandidaten
[48] Potentielle Kandidaten für einen Beitritt zur EU sind weitere Staaten des westlichen Balkans, nämlich Bosnien und Herzegowina sowie das Kosovo39.
[S. 59]
III. Die Austrittsgeschichte
[49] Mit dem Vertrag von Lissabon wurde im EU-Vertrag eine Austrittsklausel eingeführt, die es einem Mitgliedstaat erlaubt, die EU zu verlassen (Art. 50 EUV). Danach kann ein Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften den Beschluss fassen, von seinem einseitigen und an keine weiteren Voraussetzungen geknüpften Austrittsrecht nach Art. 50 Abs. 1 EUV Gebrauch zu machen. Der Mitgliedstaat hat dann dem Europäischen Rat nach Art. 50 Abs. 2 S. 1 EUV seine Austrittsabsicht mitzuteilen. Erst mit der offiziellen Notifizierung des Rates wird das förmliche Austrittsverfahren und damit auch die Zwei-Jahres-Frist des Art. 50 Abs. 2 S. 1 EUV in Gang gesetzt. Der Europäische Rat beschliesst sodann nach Art. 50 Abs. 2 S. 2 EUV einstimmig verbindliche Leitlinien, die den nun folgenden Verhandlungen eines Austrittsabkommens zugrunde gelegt werden, über das er schliesslich mit qualifizierter Mehrheit entscheidet (Art. 50 Abs. 4 S. 2 EUV i.V.m. Art. 238 Abs. 3 lit. b AEUV). Der Abschluss eines Austrittsabkommens ist für die Wirksamkeit des Austritts allerdings nicht konstitutiv. Kommt es innerhalb von zwei Jahren nach der Ausübung des Austrittsrechts durch Notifizierung des Europäischen Rates nicht zu einem Austrittsabkommen, so wird der Austritt automatisch wirksam (sog. sunset clause), sofern die Zwei-Jahres-Frist nicht im Einvernehmen mit dem austrittswilligen Mitgliedstaat durch einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates verlängert wird (Art. 50 abs. 3 EUV). Im Rahmen der turbulenten Verhandlungen über den Brexit auch auf Vorlage durch ein schottisches Gericht der EuGH mit der Frage befasst, ob, wann und wie eine Notifizierung vor Ende der Zwei-Jahres-Frist einseitig zurückgenommen werden kann. Der EuGH hat hierzu entschieden40, dass eine einseitige Rücknahme der Austrittserklärung „in Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Notwendigkeiten“ im Vereinigten Königreich möglich sei. Dann bliebe das Vereinigte Königreich unter unveränderten Bedingungen Mitglied der EU. „Kein Staat kann gezwungen werden, gegen seinen Willen der Europäischen Union beizutreten und genausowenig kann er gezwungen werden, die Europäische Union gegen seinen Willen zu verlassen.“ Die Möglichkeit einer einseitigen Rücknahme besteht bis zum Ende der Zwei-Jahres-Frist bzw. einer entsprechend verlängerten Austrittsfrist. Mit der Wirksamkeit des Austritts durch Ablauf der Zwei-Jahres-Frist bzw. einer entsprechend verlängerten Austrittsfrist finden die EU-Verträge und damit auch das europäische Sekundärrecht auf den ausgetretenen Mitgliedstaat automatisch keine Anwendung mehr.
Eine Bestimmung über den Ausschluss eines Mitgliedstaates aus der EU wurde in Art. 50 EUV nicht aufgenommen.
1. Austritt Grönlands
[S. 60]
[50] Der erste Fall des Austritts geht zurück auf den Februar 1982, als sich die Bevölkerung Grönlands in einer Volksbefragung mit einer knappen Mehrheit gegen den Verbleib der Insel in der damaligen E(W)G aussprach. Die Eingliederung Grönlands in die EG erfolgte 1973 aufgrund seiner Zugehörigkeit zu Dänemark. Obgleich der Fall des Austritts in den damaligen EG-Verträgen nicht vorgesehen war, kamen die dänische Regierung und die EG im Februar 1984 überein, Grönland mit Wirkung vom 1. Februar 1985 aus der EG zu entlassen. Grönland wird von diesem Zeitpunkt an der Status eines mit der EG assoziierten überseeischen Gebietes gewährt41.
2. Austritt Vereinigtes Königreich (Brexit)
[51] Drei Jahre nach dem britischen Referendum über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU vom 23. Juni 2016 (51,9% dafür – 48,1% dagegen bei 72,2% Beteiligung) und nach äußerst turbulenten Verhandlungen über das Austrittsabkommen42 wurde der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU nach 47 Jahren der Zugehörigkeit zur EU zum 31. Januar 2020 endgültig besiegelt.
Im Hinblick auf den Achterbahn ähnlichen Verlauf der Verhandlungen soll im Folgenden ein kurzer Überblick über die wichtigsten Stationen bis zum Austritt am 31. Januar 2020 23h GTM (24h CTM) gegeben werden:
29.3.2017: Die Austrittserklärung des Vereinigten Königreichs aus der EU und der Europäischen Atomgemeinschaft wird dem Europäischen Rat formell durch die damalige Premierministerin May notifiziert43. Damit wurden die Fristen für die Ausarbeitung des Austrittsabkommens in Gang gesetzt. Das Vereinigte Königreich verlor das Recht auf Mitwirkung im Europäischen Rat und im Rat der EU; es behielt aber weiterhin seinen britischen Kommissar und seine Mitglieder im EP. In den Arbeitsgruppen des Rates und der Kommission konnten Vertreter des Vereinigten Königreichs im Einzelfall zugelassen werden.
29.4.2017: Der Europäische Rat mit 27 Mitgliedstaaten gibt noch an demselben Tag die Verhandlungsposition der EU bekannt und bestätigt Michel Barnier als Verhandlungsführer auf Seiten der EU; er ist zugleich der Leiter der bei der Kommission eingerichteten Task Force Artikel 5044.
[S. 61]
22.5.2017: Der Rat ermächtigt die Kommission zur Aufnahme von Verhandlungen und gibt unter Berücksichtigung der Verhandlungsposition des Europäischen Rates die Leitlinien für die Verhandlungen vor45.
19.6.2017: Auftakt der Verhandlungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich.
14./25.11.2018: Abschluss eines vorläufigen Austrittsabkommens, das den Verbleib des Vereinigten Königreichs in einer Zollunion mit der EU vorsieht bis in einem weiteren Abkommen über die zukünftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU eine Lösung für die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland gefunden wird (sog. „Backstop“).
11.1.2018: Beschluss des Rates über die Unterzeichnung des Austrittsabkommens46.
15.1.2019: Ablehnung des vorläufigen Austrittsabkommens durch das britische Unterhaus mit 432 Nein- gegenüber 202 Ja-Stimmen.
11.3.2019: Kommissionspräsident Juncker versichert der Premierministerin May, dass der „Backstop“ nicht dazu missbraucht werden wird, das Vereinigte Königreich in der Zollunion zu binden, um so eine weitere Abstimmung über das Austrittsabkommen zu ermöglichen (sog. „Straßburger Vereinbarung“).
12.3.2019: Erneutes Scheitern der Abstimmung über das Austrittsabkommen im Unterhaus trotz der „Straßburger Vereinbarung“ mit 391 Nein- gegenüber 242 Ja-Stimmen.
13.3.2019: