Rechtsgeschichte. Stephan Meder
Kapitel 5.1, S. 114; S. 285). Die Pontifices haben aber nicht nur die Zwölf Tafeln ausgelegt, sondern auch die Klagen (legis actiones) formuliert. Diese Klagen durften nur an festgesetzten Tagen (Kalender) erhoben werden. Auch hier waren ausschließlich sie mit den genauen Einzelheiten vertraut.
3.1 Das Ende der Priesterherrschaft
Nach der römischen Überlieferung ist die Machtstellung der Pontifices im Jahre 304 v. Chr. durch Gnaeus Flavius gebrochen worden. Gnaeus Flavius war bei dem berühmten Patrizier Appius Claudius Caecus als Schreiber angestellt, der sich näher mit den Klageformeln beschäftigt und sie in Buchform gebracht hat. Dieses Buch soll Gnaeus Flavius heimlich entwendet und dem Volk übergeben haben (D. 1.2.2.7). Außerdem soll er die Termine der Gerichtstage (Kalender) der Öffentlichkeit bekannt gemacht haben. Ohne Kenntnis der Kalender wäre das Wissen um die Formeln nutzlos gewesen. Auf Grund der Taten des Gnaeus Flavius waren Rechtsunkundige nicht mehr in jedem Fall auf Beratung durch die Pontifices angewiesen. Sie konnten sich nun – in gewissen Grenzen – selbst orientieren.
Um 300 v. Chr. öffnet man den Plebejern endlich den Weg zu den Priesterämtern der Pontifices und Auguren (lex Ogulnia). Allmählich lockert sich die enge Verflechtung von religiösem und weltlichem Leben und man sucht die Rechtspflege mehr nach rationalen Gesichtspunkten zu organisieren. Der Prätor wird zum „Hüter des Zivilrechts“ (Cicero, [<<63] De legibus, III § 8). Die sogenannten Jurisdiktionsmagistrate schaffen im Rahmen ihrer Rechtsprechungsgewalt (iurisdictio) von Fallgruppe zu Fallgruppe neue Klagemöglichkeiten. Zur iurisdictio ist der Stadtprätor befugt, dem schon bald ein Fremdenprätor zur Seite gestellt wird (vgl. 2. Kapitel 4, S. 66.). Daneben besteht eine besondere Zuständigkeit der kurulischen Ädilen für den Markthandel. Da die Magistraturen Ehrenämter (honores) sind, nennt man das Amtsrecht der Prätoren und der kurulischen Ädilen in seiner Gesamtheit ius honorarium. Das ius honorarium tritt neben das überkommene ius civile und gewinnt zumal für den Rechtsverkehr mit Ausländern erhebliche Bedeutung.
Der Prätor entscheidet über die Zulassung der Klage (actio) und bestimmt den Richter (iudex), der die Beweisaufnahme durchzuführen und das Urteil zu fällen hat. Die für den römischen Zivilprozess charakteristische Aufgabenteilung zwischen Prätor und Richter hängt damit zusammen, dass zur Gewährleistung der Rechtsdurchsetzung nur eine begrenzte Anzahl von höheren Beamten zur Verfügung stand. Die Zweiteilung entlastet den Prätor, sie fördert aber auch – wie die moderne Gewaltenteilung – die Unparteilichkeit der Rechtsfindung. Zwar ist der Prätor nach wie vor an das ius civile gebunden, aber nicht darauf beschränkt. Er kann auf Grund seiner iurisdictio neue Rechtsbehelfe gewähren, was vor allem im Rahmen des Formularprozesses geschah. Die Einführung des Formularprozesses ging Hand in Hand mit einer zunehmenden Differenzierung und Weltverflochtenheit der römischen Gesellschaft. Die alte Technik der Spruchformeln verlor allmählich an Überzeugungskraft. Dass sein Recht verlieren konnte, wer die Formeln nicht beherrschte oder sich versprach, wurde als zu hart empfunden. So setzte sich ein gelockertes Verfahren durch, in dem nicht mehr die Parteien zu förmeln brauchten, sondern nur noch der Prätor bei der Instruktion des Richters. Die Instruktionen erfolgten schriftlich, man nennt sie Schriftformeln oder Formulare. Diese Formulare bildeten einen Teil des prätorischen Edikts. Das Aufkommen der prätorischen Rechtsschöpfung zeigt, wie [<<64] sich die römische Rechtskultur allmählich von der in den Zwölf Tafeln verschriftlichten Mündlichkeit absetzt und die Schriftlichkeit den alten Formalismus überwindet.
Im Edikt legt der Prätor die Grundsätze schriftlich nieder, nach denen juristische Entscheidungen zu treffen sind. Adressaten sind nicht nur die Richter, sondern das allgemeine Publikum: Jeder, der eine Klage zu erheben beabsichtigt, kann sich im Edikt darüber informieren, ob es für den von ihm behaupteten Sachverhalt eine Klage (actio) gibt. In Routinefällen, in denen sich der Sachverhalt einfach subsumieren ließ, mochte es genügen, wenn die Parteien die passende Formel auswählten. In den schwierigeren Fällen mussten sie im Vorfeld des Prozesses ein Programm entwerfen, das nicht nur den Behauptungen des Klägers, sondern auch den Verteidigungsmöglichkeiten des Beklagten Rechnung trug. Der Laie war hier schnell überfordert, er suchte Rat bei den Juristen – den sogenannten iuris consulti (2. Kapitel 5, S. 68.). Diese leiteten die Interaktion der Parteien und sorgten dafür, dass Lebenssachverhalt und Prozessformel in Einklang kamen. Die Entscheidung ist durch Juristen also vorbereitet worden. Nur so hat die Aufgabenteilung von Prätor und Richter, jedenfalls in komplexen Fällen, funktionieren können.
Wie bereits erwähnt, haben die Römer für leitende Beamte die Annuität eingeführt, um zu verhindern, dass einzelne Personen zu viel Macht über die Bevölkerung erlangen (S. 25). Auch der Prätor war Jahresbeamter. Seinem Amtsnachfolger stand es im Prinzip frei, bereits nach einem Jahr völlig neue Rechtsgrundsätze einzuführen. Die mit einem alljährlichen Wechsel des Normenbestandes verbundenen Unübersichtlichkeiten hätten einen Rückfall in Zeiten bedeuten können, in denen die Rechtsuchenden über dessen Inhalt nur unzureichend informiert waren. Die Nachfolger übernahmen jedoch das Recht ihrer Vorgänger, sie modifizierten oder ergänzten es nur, wenn neue Problemstellungen das Bedürfnis nach adäquaten Regeln entstehen ließen.
Die prozessorientierten Ankündigungen im prätorischen Edikt führten zu der für das römische Recht charakteristischen aktionenrechtlichen Denkweise. Diese Denkweise war noch im 19. Jahrhundert vorherrschend, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, als Bernhard Windscheid in seiner Schrift „Die Actio des römischen Civilrechts vom Standpunkt [<<65] des heutigen Rechts“ (1856) das römische Aktionenprinzip durch den materiellrechtlichen Anspruch ersetzte (S. 327). Bis heute dominiert in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen die strikte Trennung von materiellem Recht und Verfahrensrecht. Gleichwohl ist auch hier das prozessuale Wechselspiel von Klage (Angriff, Anspruch, actio) und Gegenrecht (Verteidigung, Einrede, exceptio) mit einhergehender Verteilung der Darlegungs- und Beweislast bisweilen noch anzutreffen. Die nähere Bezeichnung der Schnittstellen, an denen prozessuale und materiellrechtliche Elemente interagieren, bleibt ein Desiderat rechtswissenschaftlicher Forschung. Die neuere Literatur pflegt das Thema im Rahmen vergleichender Darstellungen von Rechtsbehelfen aus dem römischen und angelsächsischen Recht zu behandeln (vgl. Hartwieg, ZZP-Int 2000, 19, 33, 52).
4. Das „Völkergemeinrecht“ (ius gentium)
Nach dem Sieg der Römer über Karthago in den punischen Kriegen des 3. Jahrhunderts erstreckte sich die römische Herrschaft über den gesamten Mittelmeerraum. Die Zahl von Nichtbürgern oder Fremden (peregrini) war sprunghaft angestiegen. Peregrini waren diejenigen, die per-egre, also jenseits des römischen Gebiets (ager Romanus) lebten. Die Rechtsordnung konnte der wachsenden Zahl von Ausländern nicht gleichgültig gegenüberstehen. Im Jahr 242 v. Chr. wurde daher das Amt des Fremdenprätors (praetor peregrinus) eingerichtet. Seine Zuständigkeit erstreckte sich auf Fälle, in denen eine oder beide Parteien Ausländer waren. Es gab nun also zwei Prätoren, den Stadtprätor (praetor urbanus) und den Fremdenprätor (praetor peregrinus). Das zu einem erheblichen Teil vom praetor peregrinus geschaffene ius gentium ist im Lauf der Zeit als selbständige Rechtsmasse neben das ius civile getreten.
Der Begriff des ius civile hat mehrere Bedeutungen. Zum einen tritt er in Gegensatz sowohl zum ius honorarium als auch zum ius publicum (öffentliches Recht) und ius sacrum (religiöses Recht). Darüber hinaus bezeichnet er aber auch einen Gegensatz zum ius gentium, weil das ius civile nur für römische Bürger gilt und auf Fremde nicht ohne weiteres [<<66] ausgedehnt werden kann. Für die Nichtbürger (peregrini) galt ursprünglich das Personalitätsprinzip, d. h. die Regel, dass jedermann, wo immer er sich aufhält, rechtlich nach seiner Nationalität beurteilt wird. Auf die Rechtsbeziehungen zwischen Römern und Peregrinen oder zwischen Peregrinen verschiedener Nationalität war dagegen weder das ius civile noch eine der nichtrömischen Rechtsordnungen anwendbar. Deshalb entwickelten die Römer für den Rechtsverkehr mit oder unter Peregrinen eine Reihe von Rechtseinrichtungen,