Rechtsgeschichte. Stephan Meder
hier dem Beklagten selbst vor gröberen Ungerechtigkeiten keinen Schutz zu bieten. Im Lauf der jüngeren Republik kam es aber zu Erweiterungen richterlichen Ermessens. Eine dieser Erweiterungen ist die Einrede arglistigen (oder treuwidrigen) Verhaltens (exceptio doli). Diese Einrede konnte der Schuldner gegenüber dem Kläger auch bei formgebundenen Geschäften und insbesondere dann erheben, wenn er sich im Rahmen einer abstrakten Stipulation verpflichtet hatte. Später war es dem Schuldner möglich, auch die Einrede der ungerechtfertigten Bereicherung (condictio) geltend zu machen (vgl. § 821 BGB). Die condictio hat ihre Grundlage in der von griechischen Philosophen entwickelten Billigkeitsregel, nach der es der naturalis aequitas (natürlichen Billigkeit) entspricht, dass niemand aus dem Nachteil eines anderen bereichert werden darf. Auf Grundlage des Zusammenspiels von ius naturale, ius gentium und ius honorarium wurde dem Richter somit ein Entscheidungsspielraum eröffnet, der es ermöglichte, gleichsam hinter die Form zu schauen und Rechtsschutz auch dort zu gewähren, wo das formgebundene Recht danach streben muss, seine ganze Härte zu entfalten.
Insgesamt hat sich die Stipulation unter gewandelten Verhältnissen als erstaunlich anpassungsfähig erwiesen. Doch bietet das Schicksal der stipulatio in der nachklassischen Zeit auch ein Beispiel für die Grenzen der Anpassungsfähigkeit von Rechtsinstituten, die auf struktureller Mündlichkeit beruhen. Wie erwähnt, hat das römische Recht im Unterschied zum nexum oder zur mancipatio für die stipulatio eine Hinzuziehung von Zeugen nicht verlangt. Es handeln allein die am Geschäft beteiligten Personen. Auf sie allein erstrecken sich die Wirkungen des Geschäfts. Zur Sicherung des Beweises genügt ein mündlicher Austausch der Frage- und Antwortform. Einer Beurkundung bedarf es nicht (S. 38). Gleichwohl war es bereits in der jüngeren Republik üblich geworden, den Stipulationsabschluss zu beurkunden. Solange es an einem Gegenbeweis mangelte, folgerten die [<<75] Gerichte aus der Vorlage der Urkunde, dass die Parteien die mündliche Stipulation formrichtig abgeschlossen haben. Unter dem Einfluss der hellenistischen Urkundenpraxis erlangte die Tatsache der Beurkundung zunehmende Bedeutung, das Erfordernis eines mündlichen Austauschs von Frage und Antwort verlor dagegen an Gewicht. Im dritten Jahrhundert n. Chr. hat sich die Übung eingebürgert, dass Verträgen aller Art eine Stipulationsklausel angehängt werden kann, um sie dem römischen Stipulationsrecht zu unterstellen. Die Stipulationsurkunde fungiert in diesen Fällen als Bescheinigung, dass die Stipulation mündlich geschehen ist. Später verzichtet die Praxis überhaupt auf den Nachweis dieser Form und begnügt sich mit dem beurkundeten Leistungsversprechen; liegt ein solches vor, wird die Frage- und Antwortform fingiert. Damit hat die Stipulationsklausel ihren Sinn verloren.
Im weiteren Verlauf der Entwicklung geraten Frage- und Antwortform sowie der Gebrauch der Stipulationsworte gänzlich außer Übung. Einen wichtigen Schritt in der spätantiken Entwicklung der Stipulation bildet ein Gesetz Kaiser Leos aus dem Jahr 472 n. Chr., demzufolge der in beliebigen Worten schriftlich abgefasste Schuldvertrag als Stipulation gelten kann. Nachdem unter Diokletian der Formularprozess beseitigt worden war, hatte sich der Gegensatz zwischen pactum nudum und Stipulation weitgehend eingeebnet. Die alte Form war durch das schriftliche Schuldversprechen, welches mit Begriffen wie cautio, chirographum, documentum, instrumentum umschrieben wurde, fast völlig verdrängt worden. Der Inhalt dieser schriftlichen Versprechen war nicht fest umrissen, besondere Formvorschriften mussten nicht beachtet werden. Auch die Fortbildung der Stipulation von einem abstrakten zu einem kausalen Geschäft lässt sich als Folge einer allmählichen Verdrängung von Rechtsgeschäften begreifen, die auf struktureller Mündlichkeit beruhen. Die Erklärung des Schuldners allein konnte seine Verpflichtung kaum mehr begründen. Es musste ein Grund (causa) für sie hinzutreten – z. B. Darlehn oder Schenkung (S. 163, S. 392). Begünstigt wurde diese Entwicklung durch eine Stärkung der Beweiskraft kausaler Urkunden (C. 4.30.13). Damit war die Stipulation in der Praxis weitgehend zu einem kausalen Beurkundungsgeschäft geworden, wobei freilich zu beachten ist, dass weder die Angabe der causa noch die Einhaltung einer Schriftform als Gültigkeitserfordernis angesehen wurden. [<<76]
Trotz dieser Anpassung der Stipulation an die veränderten Verhältnisse hat auch das nachklassische römische Recht noch an gewissen formalen Voraussetzungen festgehalten, die sich später als Hindernis für die Rechtsfortbildung erweisen sollten. So kann die Stipulation seit jeher Rechtswirkungen nur zwischen den am Geschäft Beteiligten erzeugen: „Für einen anderen kann man sich nichts versprechen lassen“ (alteri stipulari nemo potest). Dieser Satz sollte noch im Mittelalter und in der Neuzeit der Ausbildung von Instituten wie dem Vertrag zugunsten Dritter (§ 328 BGB) oder der direkten Stellvertretung (§ 164 BGB) im Wege stehen. Die stipulatio ist vom modernen Recht nicht übernommen worden – wohl auch deshalb, weil ein letzter Rest struktureller Mündlichkeit dieses Vertragstyps der Rechtsfortbildung Hindernisse bereitete. Dass sich freilich von der abstrakten Stipulation über die modernen Abstraktionsgeschäfte eine Linie bis in die Gegenwart zieht, war bereits ausgeführt worden (S. 39).
Literatur
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