Rechtsgeschichte. Stephan Meder
die im Wege einer mancipatio nicht hätten erworben werden können (res nec mancipi). Allerdings sind mit der in iure cessio auch Nachteile verbunden, die wohl dazu geführt haben, dass sie schon in der klassischen Zeit außer Übung kam. Gaius hat diese Nachteile auf den Punkt gebracht (II, 25):
Meistens jedoch, ja fast immer, bedient man sich der Manzipationen, was man nämlich selbst in Gegenwart von Freunden vornehmen kann, das braucht man nicht erst mit größerer Schwierigkeit beim Prätor oder beim Provinzialstatthalter zu tun (plerumque tamen et fere semper mancipationibus utimur: quod enim ipsi per nos praesentibus amicis agere possumus, hoc non interest nec necesse cum maiore difficultate apud praetorem aut apud praesidem provinciae agere).
In der hochklassischen Zeit haben die römischen Juristen die Methoden des begrifflichen Denkens und die Kunst der Auslegung von Normen weiterentwickelt und verfeinert. Die wachsende Kluft zwischen dem Wortlaut des alternden Gesetzes und der veränderten Lebenswirklichkeit führte zu der Einsicht, dass Gesetze nicht sämtliche in der Wirklichkeit vorkommenden Fälle erfassen können. Dieser Gedanke hat bis heute seine Gültigkeit bewahrt, wo wir oft mit über hundert Jahre alten Gesetzen Rechtsfragen lösen müssen, die der Gesetzgeber so nicht hat vorhersehen können. Der römische Jurist Julian (S. 87) hat im 2. Jahrhundert n. Chr. das Problem wie folgt charakterisiert (D. 1.3.12):
Es können nicht alle Fallvarianten einzeln von den Gesetzen oder Senatsbeschlüssen erfaßt werden; wenn aber deren Sinn und Zweck auf irgendeinen [<<59] [neuen] Fall zutreffen, dann muß derjenige, der für die Rechtsprechung zuständig ist, zur Bildung einer analogen Regel fortschreiten und danach Recht sprechen (non possunt omnes articuli singillatim aut legibus aut senatus consultis comprehendi: sed cum in aliqua causa sententia eorum manifesta est, is qui iurisdictioni praeest ad similia procedere atque ita ius dicere debet).
In eine ähnliche Richtung zielt das berühmte Fragment über systematische Auslegung des Juristen Celsus (S. 86), der ebenfalls im 2. Jahrhundert n. Chr. lebte (D. 1.3.24):
Es ist methodisch unzutreffend, die Entscheidung auf eine bestimmte Norm zu stützen, bevor man nicht das ganze Gesetz überprüft hat (incivile est, nisi tota lege perspecta, una aliqua particula eius proposita iudicare, vel respondere).
Die römischen Juristen haben weder zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung noch zwischen extensiver Auslegung und Analogie klar unterschieden. Zur Vermeidung willkürlicher und sachfremder Rechtsbildungen stand ihnen die Billigkeit (aequitas) als Überprüfungsmaßstab zur Verfügung. Ein in der Antike häufig diskutiertes Beispiel für die Anpassung der Zwölf Tafeln an die veränderte Lebenswirklichkeit ist eine Regelung, wonach der Eigentümer eines Vierfüßers (quadrupes) für Schäden haftet, die dieser durch seine Wildheit verursacht hat. In solchen Fällen konnte der Geschädigte mit der actio de pauperie, einer bereits in den Zwölf Tafeln (VIII, 6) bezeugten Klage, Ansprüche gegen den Eigentümer geltend machen. Nun waren infolge der geographischen Ausdehnung des Reiches in Rom bald auch exotische Tiere anzutreffen, von denen die Verfasser der Zwölf Tafeln – wenn überhaupt – nur sehr undeutliche Vorstellungen haben konnten. In bestimmten Kreisen der römischen Gesellschaft war es vorübergehend Mode geworden, sich einen nordafrikanischen Vogel Strauß zu halten und im Garten frei herumlaufen zu lassen. Ein solcher Strauß hat während eines Gartenfests die Frau eines ehemaligen Konsuls gebissen. Als sie mit der actio de pauperie gegen den Eigentümer vorgehen will, wendet dieser ein, ein Vogel sei kein Vierfüßer. Die Geschädigte meint dagegen, Biss sei Biss, und darauf, ob der Biss von einem Vier- (quadrupes) oder Zweifüßer (bipes) herrühre, dürfe es nicht ankommen. [<<60]
Gesetzlich geregelt ist nur der Fall eines Schadens, der durch einen Vierfüßer verursacht worden ist. Da es sich bei einem Strauß nicht um einen Vierfüßer handelt, kann man anscheinend mit der actio de pauperie in diesem Fall nicht gegen den Eigentümer vorgehen. Bezüglich der durch Zweifüßer verursachten Schäden besteht eine Regelungslücke, die bis heute Voraussetzung für einen Analogieschluss ist.11 Den römischen Juristen der klassischen Zeit war nicht entgangen, dass sich die beiden Fälle der Wertung nach entsprechen. Sie erachteten es daher für zulässig, den Anwendungsbereich der vorhandenen Norm auf den nicht geregelten Fall auszuweiten und diesen ebenso wie den geregelten Fall zu entscheiden (D. 9.1.4). So war durch extensive Auslegung der Zwölf Tafeln (bzw. durch Analogie) eine dem heutigen § 833 BGB vergleichbare Rechtslage entstanden.
Nach der Einteilung des Pomponius gliedert sich das Recht der altrömischen Zeit in drei Teile: Zwölftafelgesetz, Auslegung und Legisaktionen (D. 1.2.2.6). Legisaktionen sind gesetzliche (legis) Klageformeln (actiones). Einige solcher Klageformeln finden sich bereits in den Zwölf Tafeln. Die Mehrzahl der Legisaktionen (legisactiones) ist aber erst später aus den Vorschriften der Zwölf Tafeln entwickelt worden. Pomponius sagt, dies geschah, um den Menschen die Austragung ihrer Rechtsstreitigkeiten zu ermöglichen: Die Klageformeln seien zahlenmäßig begrenzt und feierlich-förmlich (certas solemnesque) gewesen, damit sie nicht nach Belieben erhoben werden können (D. 1.2.2.6). Wo die Rechtsordnung keine Klagemöglichkeit (actio) vorsah, gab es also auch kein subjektives Recht. Die Schilderung des Pomponius lässt auf zu geringe Kapazitäten des alten Gerichtswesens schließen. Die Organisation eines überparteilichen Dritten kam den Bedürfnissen der Bevölkerung offenbar so sehr [<<61] entgegen, dass die steigende Nachfrage nach verbindlicher Konfliktlösung eine Vermehrung der Klagemöglichkeiten erforderlich machte (vgl. 1. Kapitel 3, S. 47.). Es ist oft bemerkt worden, dass in Rom die Verbindung von Prozessrecht und materiellem Recht sehr viel enger war als wir es heute für möglich halten. Einer der Gründe hierfür mag darin liegen, dass die Steuerung des Zugangs zur knappen Ressource Gerichtsbarkeit über die Legisaktionen erfolgte.
Als Beispiel für eine altrömische Legisaktion sei hier nur die legis actio sacramento genannt. Aus ihr haben sich in der Praxis die actiones in personam und actiones in rem herausgebildet, die zur Grundlage der Unterscheidung von persönlichen und dinglichen Rechten geworden sind. Die rein sachverfolgende actio in rem ist ein Vorläufer der rei vindicatio: Der Kläger braucht nur zu behaupten, die an die Gerichtsstätte (in iure) gebrachte, streitbefangene Sache gehöre ihm (S. 34). Bei nicht transportablen Sachen gilt pars pro toto (Gaius IV, 17): Ein Grundstück wird durch einen Ziegel oder eine Handvoll Erde repäsentiert. Auch für den Legisaktionenprozess gilt: Die Spruchformeln müssen wortwörtlich und genau in der vorgeschriebenen Weise aufgesagt werden (vgl. Gaius IV, 11). Wer sie nicht beherrscht oder sich verspricht, läuft Gefahr, den Prozess zu verlieren (vgl. S. 132). Das Verfahren war nur römischen Bürgern zugänglich. Bei Rechtsstreitigkeiten mit Ausländern (z. B. Tafel II, 2) ist es wahrscheinlich etwas lockerer zugegangen.
Die Ständekämpfe zwischen Plebejern und Patriziern sind nach Veröffentlichung der Zwölf Tafeln nur vorübergehend abgeklungen. Der dadurch erhoffte Gewinn an Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit war nicht von langer Dauer (1. Kapitel 1, S. 27.). Gegen Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. erreichte der Kampf von Angehörigen einflussreicher plebejischer Familien um den Zugang in die regierende Adelsschicht einen neuen Höhepunkt. Zwar mussten die Pontifices sich nun dem Buchstaben des Gesetzes unterwerfen. Dies hinderte sie aber nicht, die Rechtspflege bald wieder im Stil einer Geheimwissenschaft zu betreiben. Die interpretatio [<<62] eröffnete Spielräume für Entscheidungen, die über den Wortlaut des Gesetzes weit hinaus gingen. Der Bedarf an neuen Problemlösungen war derart angewachsen, dass die Pontifices mit der Kompetenz zur Auslegung faktisch die Herrschaft über die gesamte Rechtsfortbildung erlangten. Es ist kein Zufall, dass in der Geschichte des Rechts immer wieder Versuche unternommen wurden, die Auslegungskompetenz von Juristen zu beschneiden oder Auslegung und Kommentierung von Gesetzen ganz zu unterbinden. Bekannte Beispiele sind die