Rechtsgeschichte. Stephan Meder
Schadensersatzrechts unvereinbar. Außerdem müsse Strafe anders als Geldersatz nicht an den Verletzten, sondern an die öffentlichen Kassen geleistet werden. Würde ein Schädiger zum Beispiel Strafgeld an sein Opfer ausbezahlen, so käme dies einer Privatstrafe gleich. Das Institut der Privatstrafe gehöre aber zu den „Sauriern der Rechtsgeschichte“ und sei schon längst „ausgestorben“ (Heck). So haben auch die Verfasser des BGB gedacht (Mot. II, 17 f.). Demgegenüber treffen ältere Gesetze wie die Zwölf Tafeln oder die lex Aquilia keine klare Unterscheidung zwischen Schadensersatz und Strafe. Im Hintergrund steht der Gedanke, dass auch die Verpflichtung zum Schadensersatz eine Sanktion normwidrigen Verhaltens und damit Strafe ist. Neueste Entwicklungen, etwa im Bereich der Bemessung von Schmerzensgeldern oder sogenannter punitive damages scheinen den wahren Kern dieses Gedankens zu bestätigen. Die Problembereiche zeigen, dass sich die Grenzlinie zwischen Schadensersatz und Strafe keineswegs so eindeutig ziehen lässt, wie man es gemeinhin für möglich hält. Diese Einsicht hat inzwischen dazu geführt, dass die Privatstrafe und Fragen nach den pönalen Elementen des Zivilrechts wieder stärker in den Bereich wissenschaftlichen Interesses gerückt sind.
3. Die Entstehung des Rechts aus der Gewalt
Viele der in den Zwölf Tafeln enthaltenen Regelungen weisen zurück in eine Zeit, in der die Gewalt das grundlegende Mittel zur Durchsetzung von ‚Recht‘ gewesen ist. Ein anschauliches Beispiel bildet die eigentümliche Zeremonie der mancipatio, die vermuten lässt, dass der Erwerber ursprünglich den Gegenstand nicht nur der juristischen Form halber, [<<47] sondern zur Ausübung der tatsächlichen Sachherrschaft mit der Hand ergriffen hat (S. 34). Ähnlich weist das Ritual der vindicatio zurück in eine Zeit, wo ein Erwerb aus eigener Kraft stattfand und die Gewalttat den eigentlichen Geltungsgrund für einen Besitzwechsel darstellte. So sah es bereits Gaius (IV, 16):
Den Stab aber gebrauchte man gleichsam anstatt des Speeres als ein symbolisches Zeichen des zivilrechtlich anerkannten Eigentums, weil man vor allem das als sein Eigentum glaubte, was man den Feinden abgenommen hatte (festuca autem utebantur quasi hastae loco, signo quodam iusti dominii, quando iusto dominio ea maxime sua esse credebant, quae ex hostibus cepissent).
Etwa 200 Jahre vor Gaius spricht der römische Dichter Vergil (70 – 19 v. Chr.) im 7. Buch der Aeneis von den Ureinwohnern Italiens, den Latinern: Sie „sind des Saturnus Volk, das weder Zwang noch Gesetze braucht, sondern freiwillig dem Fug des ältesten Gottes gehorcht“, was unter anderem bedeutet: Sie „wissen und wünschen nichts Besseres als Raub vom Feind und Leben vom Raub“. Im 19. Jahrhundert hat vor allem Rudolf v. Jhering (15. Kapitel 2, S. 333.) auf die ordnungs- und rechtsstiftende Funktion der Gewalt aufmerksam gemacht. Seine Lehre ist durch neuere Forschungen zur Streitregelung in archaischen Gesellschaften weitgehend bestätigt worden. Danach bildet die Selbsthilfe (S. 128) das ursprüngliche Mittel zur Streitregelung. Selbsthilfeordnungen kommen ohne institutionalisierte Intervention Dritter aus: Die Konfliktlösungen beschränken sich auf gewaltsame Selbsthilfe und direkte Verhandlung zwischen den Kontrahenten. Die Selbsthilfeakte stehen immer unter der Drohung, dass der Konflikt dadurch nicht gelöst wird, sondern eskaliert, was Anlass zu neuen Gewalthandlungen gibt. Vor diesem Hintergrund mag die These naheliegen, das Recht habe im Unrecht seinen Ursprung (Dershowitz, Fögen). Eine solche Annahme läuft jedoch Gefahr, heutige Vorstellungen auf frühe Formen normativer Ordnung zu projizieren, in denen ‚Recht‘ eine ganz andere Bedeutung hatte. In Selbsthilfeordnungen gibt es zwar Sitten und Bräuche, aber noch kein Recht (M. Weber). Von Recht – und von Unrecht – darf erst gesprochen werden, wenn die Organisationsform eines Dritten [<<48] auftritt – wenn sich also andere Menschen mit dem Konflikt befassen, die nicht im engen Sinne Partei sind (v. Trotha).
Selbsthilfeordnungen sind nicht nur von staatlichen Rechtsordnungen mit ihren Monopolisierungen, sondern auch von jenen nichtstaatlichen Ordnungen streng zu unterscheiden, in denen Konfliktlösungen bereits über einen überparteilichen Dritten erfolgen.9 Die Zwölf Tafeln bewahren die Erinnerung an den grundlegenden Bruch, den das Fehlen und Vorhandensein des Dritten markiert. An die einstige Vorherrschaft der Selbsthilfe erinnern neben mancipatio, coemptio oder vindicatio auch Privatrache und Erfolgshaftung sowie die im Gesetz wiederholt betonte Bevorzugung gütlicher Streitbeilegungen. Als die Zwölf Tafeln in Kraft traten, war die Vorherrschaft der Selbsthilfe freilich schon längst gebrochen. Sie stehen auf einer Entwicklungsstufe, wo das Recht in wachsendem Maße autonome Funktionen für sich in Anspruch nimmt (18. Kapitel 1.1, S. 391). Dies zeigt nicht zuletzt der Auftritt des Dritten, der in Gestalt etwa des libripens das Geld zuwägt (mancipatio) oder als Gerichtsherr über die Zuweisung des Eigentums entscheidet (vindicatio).10 [<<49]
Literatur
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Allgemeines: HHL 1 (2002), §§ 110 ff. (Liebs); H.S. Maine, Das alte Recht – „Ancient Law“. Sein Zusammenhang mit der Frühgeschichte der Gesellschaft und sein Verhältnis zu modernen Ideen (1861), hg. u. übers. v. H. Dahle (1997); N. D. Fustel de Coulanges, Der antike Staat. Kult, Recht und Institutionen Griechenlands und Roms (1864), übers. v. I.-M. Krefft (1981); Heumann / Seckel, Handlexikon; G. Wissowa, Religion und Kultus der Römer, 2. Auflage, 1912 (ND 1971); L. Wenger, Die Quellen des römischen Rechts (1953); F. Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft (1961); M. Kaser, RP I; J. Gaudemet, Les institutions de l’Antiquité (1967), 7. Auflage (2002); P. Jörs, Römisches Recht (bearb. v. H. Honsell), 4. Auflage (1987); F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, 1. Abschnitt (1988); R. Zimmermann, The Law of Obligations. Roman Foundations of the Civilian Tradition (1990; 1996); H. Dieter / R. Günther, Römische Geschichte bis 476, 3. Auflage (1990); P. Raisch, Juristische Methoden. Vom antiken Rom bis zur Gegenwart (1995); A. Söllner, Einführung in die römische Rechtsgeschichte, 5. Auflage (1996); P. Apathy / G. Klingenberg / H. Stiegler, Einführung in das römische Recht, 2. Auflage (1998); M. Bretone, Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfängen bis zu Justinian, 2. Auflage (1998); A. Bürge, Römisches Privatrecht. Rechtsdenken und gesellschaftliche Verankerung (1999); P. G. Stein, Römisches Recht und Europa, 3. Auflage (1999); H. Hausmaninger / W. Selb, Römisches Privatrecht, 9. Auflage (2001); K. Bringmann, Geschichte der römischen Republik (2002); M.Th. Fögen, Römische Rechtsgeschichten (2002); W. Dahlheim, Die Antike. Griechenland und Rom von den Anfängen bis zur Expansion des Islam, 6. Auflage (2002); Hähnchen, RG, 13; É. Jakab / U. Manthe, Recht in der römischen Antike, in: Die Rechtskulturen der Antike, hg. v. U. Manthe (2003), 239; U. Manthe, Geschichte des römischen Rechts, 5. Auflage (2016); D. Liebs, Römisches Recht, 6. Auflage (2004); G. Dulckeit / F. Schwarz / W.Waldstein, Römische Rechtsgeschichte, 10. Auflage (2005); H. Honsell, Römisches Recht, 8. Auflage (2015); M. Kaser / R. Knütel / S. Lohsse, Römisches Privatrecht, 21. Auflage (2016); W. Kunkel / M. Schermaier, Römische Rechtsgeschichte, 14. Auflage (2005); J. Rüpke, Die Religion der Römer, 2. Auflage (2006); Wesel, GdR, 153; F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, [<<50] 2. Abschnitt (2006); D. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 7. Auflage (2007); J. D. Harke, Römisches Recht (2008); H. D. Spengler, Zum Menschenbild der römischen Juristen, JZ 2011, 1021; K. Boosfeld, Grundzüge der römischen Rechtsgeschichte, JuS 2017, 490.
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