Rechtsgeschichte. Stephan Meder
ein Urteil fällten, hielten sie geheim. Juristische Entscheidungen waren daher kaum vorhersehbar. Unter den Plebejern regten sich zunehmend Zweifel an der Unparteilichkeit der Pontifices. Sie argwöhnten, dass juristische Entscheidungen nicht immer frei von eigenem Interesse gefällt wurden und empfanden es daher als besonders schmerzlich, dass ihnen der juristische Bereich verschlossen war. Einen Ausweg hätte die schriftliche Fixierung des Gewohnheitsrechts bieten können. Dadurch wären die grundlegenden Rechtsquellen für jeden Römer zugänglich geworden: Würden die Plebejer ihre Rechte besser kennen, so müssten sie die [<<26] Priesterschaft nicht mehr in jedem Fall um Rat fragen. Um 450 v. Chr., als die einzige Kodifikation, die es in Rom jemals gegeben hat, auf zwölf – vermutlich hölzernen – Tafeln veröffentlicht wurde, hatten die Plebejer ihren ersten großen Erfolg im Ständekampf errungen.3
Gesetze dienen der Freiheit, indem sie die Befugnisse von Einzelnen beschränken. „Es ist vorzuziehen“, schreibt bereits Aristoteles, „wenn das Gesetz regiert und nicht ein einzelner Staatsbürger“. Bis heute hat dieser Gedanke seine Gültigkeit bewahrt, alle modernen Kodifikationen lassen sich auf ihn zurückführen. Auch im alten Rom musste er auf fruchtbaren Boden fallen, da Freiheit dort seit der „Vertreibung der Könige“ zu einem Zentralbegriff der Gemeinschaftsordnung geworden war. Merkmale eines freiheitlichen Rechts sind Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit. Rechtssicherheit gewähren die Zwölf Tafeln durch ihre allgemeine, in konfliktträchtigen Bereichen bisweilen pedantisch genaue Aufzeichnung der Normen in Form von Gebotssätzen. Auch Rechtsgleichheit (aequum ius) suchen die Tafeln zu verwirklichen, was in der römischen Geschichtsschreibung als revolutionäre Tat gefeiert wurde. Das Gesetz habe, so Livius, „die Rechte aller, der Hohen und der Niedrigen, gleichgemacht“, es verhindere, dass einzelne zuviel Macht über die anderen bekommen (Römische Frühgeschichte, III, 34). Die Identifikation der „Rechte aller“ mit den Rechten aller Männer lässt Livius freilich nicht danach fragen, ob die Gleichbehandlung vor dem Gesetz für Frauen ebenfalls gelte (S. 39). Auch haben die Tafeln keineswegs alle Standesunterschiede beseitigt. So war etwa das Eheverbot zwischen Patriziern und Plebejern [<<27] zunächst bestehen geblieben. Es ist allerdings schon kurze Zeit später, nach Livius bereits 445 v. Chr., beseitigt worden (lex Canuleia).
Über die Entstehungsgeschichte der Zwölftafelgesetzgebung weiß man nicht viel. Livius zufolge soll eine Kommission aus Rom nach Griechenland gereist sein, um das eigene Recht nach dem Vorbild der um 600 v. Chr. entstandenen athenischen Gesetze aufzuzeichnen. Wahrscheinlich hatte sich in der antiken Welt herumgesprochen, dass die Athener soziale Spannungen durch Gesetzgebung erfolgreich zu entschärfen wussten. Bis heute sind die Gesetze des Solon wegen ihrer Weisheit und die des Drakon wegen ihrer Strenge sprichwörtlich geblieben. Soziale Spannungen bilden aber nicht den einzigen Grund für den Erlass dieser Gesetze. Sie können – zumindest auch – als das Ergebnis eines durch die griechische Erfindung des Alphabets in Gang gebrachten Veränderungsprozesses betrachtet werden. Aus Griechenland stammt der Gedanke, das Recht aufzuzeichnen und die Aufzeichnungen bequem zugänglich zu machen. Die römischen Geschichtsschreiber zeigen sich in eigentümlicher Weise blind für den Anteil des Mediums der Schrift an der Entstehung ihrer Rechtskultur. Dagegen gibt es mehrere Beispiele aus der griechischen Literatur, wo die Rolle der Schrift, insbesondere auch für die Gesetzgebung, gewürdigt wird. So enthält etwa das Stück „Die Hilfeflehenden“ des Euripides eine Stelle, die wegen ihrer Parallelen mit dem Bericht des Livius hier wiedergegeben sei:
„Nichts ist dem Volke so verhaßt wie ein Tyrann. Dort gelten nicht als Höchstes die gemeinsamen Gesetze; einer schaltet als Gesetzesherr ganz unumschränkt; und das ist keine Gleichheit mehr. Doch wurden die Gesetze schriftlich festgelegt, genießt der Arme wie der Reiche gleiches Recht.“4
Die auf dem Forum in Rom aufgestellten Tafeln sind der Nachwelt nicht erhalten geblieben. Vermutlich sind sie bereits 390 v. Chr. vernichtet worden, als die Gallier bei einem Eroberungsversuch große Teile der Stadt in Flammen aufgehen ließen. Heute sind nur noch Bruchstücke erhalten. [<<28] Unter den Fragmenten des Gesetzes unterscheidet man zwischen unmittelbaren und mittelbaren Resten. Die ersteren sind Bruchstücke aus dem Gesetzestext selbst, die dessen wirklichen Wortlaut bringen. Die antiken Quellen hierfür sind u. a. Cicero, Festus, Gellius, der ältere Plinius, die Juristen Gaius und Ulpian. Daneben gibt es zahlreiche mittelbare Quellen, die lediglich Angaben über den Inhalt des Gesetzes machen. Über die Anordnung dieses Materials bestehen viele Fragen, die sich wohl niemals abschließend klären lassen.
2. Zum Inhalt des Zwölftafelgesetzes
Mehr als jede spätere literarische Quelle vermitteln die Zwölf Tafeln Einblicke in das Leben der altrömischen Periode. Cicero (106 – 43 v. Chr.) preist sie als „das starke und getreue Bild der Vergangenheit“. In ihnen sei die gesamte „Staatsordnung mit ihren Interessen und Teilen abgebildet“. Früher habe man den Text der Tafeln „wie ein unentbehrliches Lied“ (carmen necessarium) in der Schule auswendig gelernt, was nun aber, im ersten vorchristlichen Jahrhundert, nicht mehr üblich sei. Auch sagt man, dass ihr „wuchtig lapidarer Ausdruck“ seinesgleichen in der späteren Gesetzessprache nicht mehr wiederfand (Wieacker).
Die Zwölf Tafeln bilden die wichtigste Quelle des alten ius civile (S. 56). Unter ius civile verstehen die Römer jenen Bereich der Privatrechtsordnung, der allein für den römischen Bürger gilt. Weil die römischen Bürger seit alters her auch „Quirites“ hießen, wurde das ius civile auch als ius Quiritium bezeichnet. Der deutsche Übersetzungsbegriff für ius civile ist „Zivilrecht“. Daneben sind in der modernen Fachsprache die Begriffe „Bürgerliches Recht“ und „Privatrecht“ (ius privatum) geläufig (zu den Unterschieden vgl. 21. Kapitel 1, S. 456.). Die Zwölf Tafeln suchen ein Recht umfassend darzustellen, das bislang weitgehend ungeschrieben war. Sie stehen an der Schwelle des Übergangs von der Mündlichkeit zu Denkformen der Schrift. Allerdings bezeichnet dieser Übergang keine Epochenschwelle, sondern eine kulturelle Transformation. Die bloße Aufzeichnung von Texten macht eine Kultur nicht schon zur Schriftkultur. Die vielen Spruchformeln und rituellen Elemente der in [<<29] den Zwölf Tafeln erwähnten Rechtsinstitute lassen vermuten, dass sich das geschriebene Wort hier nur in geringem Maße strukturierend auf das Recht auswirkt. Es handelt sich um verschriftlichte Mündlichkeit, deren Einfluss über das Ende der Antike hinaus bis ins Mittelalter und die Neuzeit reicht (S. 77.). Das römische Recht hat sich von der in den Zwölf Tafeln aufgezeichneten mündlichen Tradition zunächst also nicht abgesetzt, sondern diese in einzigartigem Umfang aufgenommen und weitergeführt. Die Folge war, dass Mündlichkeit und Schriftlichkeit über lange Zeit nebeneinanderstanden. Erst in der klassischen Epoche hat letztere eindeutig das Übergewicht erlangt.
Die Zwölf Tafeln enthalten Vorschriften über den Ablauf des gerichtlichen Verfahrens, der Vollstreckung sowie über diejenigen Rechtsgebiete, die wir heute als Privat- und Strafrecht so sorgfältig voneinander abgrenzen. Um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. bildete das Bauerntum mit Viehzucht und Ackerbau die wirtschaftliche Grundlage der römischen Bevölkerung. Dementsprechend enthält das Zwölftafelgesetz eine beträchtliche Zahl von Regeln aus den Bereichen des Familien-, Erb- und Nachbarrechts. Von Handelsgeschäften und anderen schuldrechtlichen Verträgen ist in den erhaltenen Fragmenten dagegen nur sehr wenig die Rede. Dies mag auf die damals noch wenig entwickelten wirtschaftlichen Verhältnisse zurückzuführen sein. Erwähnt werden allerdings bereits die für die spätere Rechtsentwicklung wichtigen Libralakte und die Stipulation. Keine Regelung haben die Ordnung des Gemeinwesens und jener Teil des Rechts erfahren, welcher die Verhältnisse der Rechtsgemeinschaften als Träger hoheitlicher Gewalt betrifft. Die Beschränkung des Rechtsstoffs auf eine Zusammenfassung der Normen, die für das Recht des einzelnen Bürgers – des sog. kleinen Mannes – maßgebend waren, lässt an den Zweck des Gesetzes erinnern: Es sollte vor allem den sozial Schwachen Schutz vor Willkür bei der Rechtsfindung bieten. Der folgende Überblick über den damaligen Rechtszustand muss auf einige Beispiele aus dem Vermögens-, Familien-, Straf- und Deliktsrecht beschränkt