Rechtsgeschichte. Stephan Meder
Naturrechts hofften, das römische Recht durch eine Systematisierung des gesamten Rechtsstoffs weitgehend überflüssig machen zu können. Diese Hoffnungen waren aber bald zerronnen, und zwar nicht nur, weil die römisch-gemeinrechtliche Dogmatik tiefe Spuren in den Gesetzgebungen hinterlassen hatte. Entscheidend war vielmehr, dass diese Dogmatik zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel bei der Anwendung der neuen Gesetze wurde – ein Vorgang, den man treffend als „Pandektisierung“ charakterisiert hat. Die als neuhumanistische Gegenbewegung zur Naturrechtsschule im 19. Jahrhundert gegründete Historische Schule ließ das römische Recht wiederum einen gewaltigen Aufschwung erleben. Die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, die nach ihrer Hauptquelle auch Pandektistik heißt, hat dann die jüngeren Kodifikationen des Zivilrechts, insbesondere das schweizerische Zivilgesetzbuch und das BGB, wesentlich beeinflusst (14. Kapitel, S. 299 bis 16. Kapitel, S. 341).
Bis zum Jahre 1900 waren noch knapp die Hälfte der veröffentlichten höchstrichterlichen Entscheidungen nach gemeinem Recht, also überwiegend nach bis zu 2000 Jahre alten Texten aus dem Corpus iuris entschieden worden. Daneben galten in Deutschland französisches, preußisches, bayerisches, sächsisches, österreichisches und dänisches Recht sowie eine ganze Fülle von Partikularrechten, darunter ganz altehrwürdige wie etwa das „Jütisch Low“ oder Teile des Sachsenspiegels.2
Mit Inkrafttreten des BGB am 1. Januar 1900 haben die jahrzehntelangen Bemühungen um ein einheitliches Recht einen erfolgreichen Abschluss gefunden (16. Kapitel, S. 341). Daher mag es überraschen, dass der Rechtszustand heute wieder durch eine Vielfalt von Rechtsquellen gekennzeichnet ist und das BGB nur noch eine unter mehreren bildet. Einer der Hauptgründe liegt darin, dass sich die Beziehungen von Recht und Staat [<<23] gewandelt haben: Fortschreitende Globalisierung und unzureichende Finanzierung geben Anlass, die vom Staat traditionell wahrgenommenen Aufgaben zu überdenken. In bestimmten Bereichen möchte der Staat heute nicht mehr Eigenleistungen erbringen, sondern Leistungen an Dritte abgeben und sich darauf beschränken, einen Rahmen zu gewährleisten. Diesem Wandel tragen Leitbilder wie „Gewährleistungsstaat“ oder „kooperativer Staat“ Rechnung, die frühere Modelle des Sozial- oder Interventionsstaates inzwischen weitgehend verdrängt haben. Danach soll auch die Kompetenz zur Rechtsetzung nicht mehr allein dem staatlichen Gesetzgeber vorbehalten sein. In der jüngsten Zeit mehren sich die Stimmen, die darauf hinweisen, dass es zunehmend auch privaten Dritten gestattet wird, objektives Recht zu setzen.
An Beispielen für private Rechtsetzung besteht kein Mangel. Zu denken wäre etwa an tradierte Formen wie Verbandssatzungen, Standesordnungen oder Allgemeine Geschäftsbedingungen, die bereits in den 1930er Jahren als „Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft“ charakterisiert wurden. Als aktuell diskutierte Erscheinungsmuster wären zu nennen: Corporate governance, lex mercatoria, lex digitalis, lex sportiva, Unidroit-Prinzipien oder das Gebiet technischer Standardisierung, wo auf nationaler und internationaler Ebene Normen von privaten Gremien jeweils erarbeitet und publiziert werden. Außerdem hat die Bedeutung des Richterrechts erheblich zugenommen, die Spezialgesetzgebungen sind deutlich angewachsen und durch Rechtsetzungsakte auf europäischer Ebene hat das Spektrum von Rechtsquellen in den letzten Jahren eine zusätzliche Ausdehnung erfahren. Unter diesen Umständen ergibt sich wie schon so oft in den vergangenen Jahrhunderten ein gesteigerter Bedarf an allgemeinen Prinzipen und sinnstiftenden Begriffen, den wissenschaftlich gebildete Juristen in Form von Dogmatik zu decken haben. Durch Abstraktion aus einer Fülle möglicher Problemlösungen müssen sie die leitenden Grundsätze herausarbeiten und so diejenigen Denkfiguren und Verständigungsmittel zur Verfügung stellen, derer die Rechtspraxis angesichts der weiter steigenden Zahl von Rechtsquellen bedarf. [<<24]
1Digesten (D.) und Codex (C.) sind jeweils in Bücher, Titel, Fragmente und Paragraphen unterteilt. Zitiert werden nacheinander die Nummern von Buch, Titel, Fragment und Paragraph (z.B.D. 1.1.1.3). Dem entspricht die Zitierweise der Institutionen (Inst.) – mit dem Unterschied, dass die Fragmente entfallen. Die Novellen (Nov.) stehen in zeitlicher Reihenfolge, ohne Einteilung in Bücher. Die größeren Novellen sind in Kapitel unterteilt (z. B. Nov. 98.2).
2Vgl. den Überblick über das vor 1900 in den verschiedenen Gebieten Deutschlands geltende Recht in der 2. Auflage, 8 f.
Auf dem hügeligen Gelände, das später „Rom“ heißen wird, befanden sich um 1000 v. Chr. einige Siedlungen, die überwiegend von Latinern und Sabinern bewohnt waren. Über die Anfänge dieser Siedlungen ist kaum etwas bekannt. Gegen Ende des 7. Jahrhunderts geriet die dort ansässige Bevölkerung unter den Einfluss der Etrusker. Sie sind die eigentlichen Gründer der Stadt Rom. Nach der sagenhaften Überlieferung fällt die Stadtgründung in das Jahr 753 v. Chr., in Wirklichkeit steht aber nicht einmal das Jahrhundert der Gründung fest. Man vermutet, dass der Gründungsakt im Zusammenschluss verschiedener Bevölkerungsgruppen bestanden hat. Etwa zweihundert Jahre regierten in der Stadt etruskische Könige (reges), von denen insbesondere der Name der Tarquinier in Erinnerung geblieben ist. Auch der Name des legendären Gründers und ersten Königs Romulus (Rumelna, Rumele) ist etruskischen Ursprungs.
Unter der Herrschaft der Etrusker begann der eigentliche Aufstieg Roms. Die mit der Stadtbildung verbundene Konzentration der politischen Kräfte und die dadurch bewirkte Verdichtung der Staatlichkeit ermöglichte überhaupt erst die Entwicklung der einheimischen Bevölkerung zu einer Macht. Im Jahre 508 v. Chr. organisierte der römische Adel eine Revolte gegen den etruskischen König Tarquinius Superbus. Nach dessen Vertreibung übernahmen die erfolgreichen Adelsfamilien die Macht im Stadtstaat. Sie hießen Patrizier (patricii), weil sie sich wie Väter (patres) um den Staat gekümmert haben sollen. An dessen Spitze standen Beamte, die man zunächst Prätoren (praeire, vorangehen) und später Konsuln nannte. Nach dem Bericht des römischen Geschichtsschreibers Livius (59 v. Chr.–17 n. Chr.) schwor das Volk, nie wieder einen König über Rom zu dulden. Von der Königszeit grenzte sich die frühe Republik dadurch ab, dass die leitenden Beamten jährlich wechseln mussten (Annuität). Die Annuität, eine Art Rotationsprinzip, war aus Sorge vor [<<25] einer Wiederholung der Geschichte eingeführt worden. Nie wieder sollten sich einzelne Personen zum Herren (dominus, tyrannus, rex) über die römische Bevölkerung emporschwingen können.
Die römische Bevölkerung gliederte sich in zwei soziale Gruppen: Den Patriziern, einer relativ kleinen Gruppe von Adeligen, die über Grundeigentum verfügten, standen die zwar zahlenmäßig überlegenen, wirtschaftlich aber unterlegenen Plebejer gegenüber, die aus zugewanderten auswärtigen Flüchtlingen hervorgegangen waren. Die Rechtsordnung beruhte auf ungeschriebenem Gewohnheitsrecht, das mündlich von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurde. Bald kam es zu Spannungen und schließlich zum offenen Kampf zwischen Patriziern und Plebejern. Zwar gelang es einigen plebejischen Familien, in wirtschaftlich und gesellschaftlich bedeutsame Positionen aufzusteigen. Von leitenden politischen Ämtern blieben sie aber weitgehend ausgeschlossen. Unzugänglich waren ihnen insbesondere der Senat (senex, alt, Versammlung der Alten) und die Priesterämter der Auguren und Pontifices.
Die Pontifices waren ausschließlich Patrizier. Wegen der engen Verflechtung von religiösem und weltlichem Leben hatte sich ihre Bedeutung nach Beseitigung des Königtums erheblich vergrößert. Zunehmend bewarben sich auch Politiker um das begehrte Amt des Oberpriesters (pontifex maximus). Als Hüter der Kultrituale und der Technik ihrer Anwendung hatten die Pontifices ein Monopol für die Beratung des Senats und der Privatpersonen über die Richtigkeit und Wirksamkeit