Rechtsgeschichte. Stephan Meder
Rechtsgeschichte ist traditionell in zahlreiche Einzelfächer gegliedert, wobei der Einteilung in Romanistik und Germanistik besondere Bedeutung zukommt. Diese Einteilung stammt aus dem 19. Jahrhundert und scheint derzeit in Rückbildung begriffen zu sein. Für eine zuverlässige Prognose über die künftige Entwicklung mag es noch zu früh sein, doch mehren sich die Anzeichen, die auf eine eher unspezifische Widmung des Faches als Rechtsgeschichte hindeuten. Es steigt die Anzahl juristischer Fakultäten, an denen nur noch ein Lehrstuhl für Rechtsgeschichte eingerichtet ist. Die Romanistik scheint die große Verliererin der aktuellen Reformbestrebungen zu sein. Wie schon einmal in der Zeit von 1933 – 1945 droht das vielleicht glänzendste und international am meisten angesehene Feld rechtshistorischer und juristischer Gelehrsamkeit in Deutschland an den Rand gedrängt zu werden.
Die Idee zu diesem Buch entstand an einem Fachbereich, wo Rechtsgeschichte jenseits der traditionellen Einteilung in Römisches und Deutsches Recht unterrichtet wird. Ist das Stoffgebiet nicht auf ein bestimmtes Herkunftsland oder auf eine bestimmte Epoche festgelegt, so stellt sich die Frage: Wo anfangen? Den Ausgangspunkt der vorliegenden Darstellung soll das römische Recht bilden. Wenn es dafür eine Rechtfertigung gibt, so liegt sie in der geschichtlichen Tatsache der Rezeption des römischen Rechts. Wie Goethes Faust ohne Helena kaum zu verstehen ist und Brecht nicht ohne die Bibel, setzt auch die Darstellung moderner Rechtsentwicklungen gewisse Kenntnisse der antiken Grundlagen voraus. Dies sei an zwei Beispielen erläutert. [<<15]
Das erste betrifft den Einfluss des römischen Rechts auf die modernen Kodifikationen. Vom BGB hat man bekanntlich gesagt, es sei ein in Paragraphen gegossenes Pandektenlehrbuch (16. Kapitel 3, S. 347.). Und auch die anderen Privatrechtsgesetzbücher Europas sind romanistische Kodifikationen. Dass das BGB deutsch, der Code civil französisch, das Wetboek niederländisch, der Código civil spanisch oder der Codice civile italienisch spricht, spielt im Vergleich zur gemeinsamen Tradition nur eine untergeordnete Rolle. Über Gesetzgebung nimmt ein mehr als zweitausend Jahre altes Recht also noch heute Einfluss auf die Rechtsordnung. Um diese „seltsame Erscheinung“ (Jhering) angemessen würdigen zu können, bedarf es zunächst einer Vorstellung von der überlegenen Methode und der verfeinerten Begriffstechnik, die römische Juristen entwickelt haben. Man muss aber auch wissen, dass Methode und Begriffstechnik einer bestimmten Verfassungsordnung entsprungen sind, deren Kern die römische Idee von Freiheit (libertas) bildet. Diese hat sich in der römischen Republik entwickelt, „die selbst noch Historikern der Moderne als Vorbild einer freiheitlichen Ordnung erschienen ist“ (Bleicken). Es ist daher kein Zufall, dass die 1945 und 1989 zusammengebrochenen Systeme das römische Recht – mit zum Teil unterschiedlichen Begründungen – jeweils auszuschalten suchten. In einer Zeit, in der viele die Abenteuer der großen Ideologien im 20. Jahrhundert schon für beendet halten, verdient diese Tatsache besondere Hervorhebung.
Das zweite Beispiel ist spezieller und handelt von dem Satz pacta sunt servanda. Der Satz ist im Mittelalter aufgekommen und bis heute anerkannt. Seine historischen Voraussetzungen stoßen aus Gründen, auf die noch zurückzukommen ist, derzeit wieder auf gesteigertes Interesse (21. Kapitel 1.2.2, S. 464). Juristische Laien pflegen anzunehmen, den Schlüssel zum Verständnis biete schon die schlichte Übersetzung: „Verträge muss man halten“. Ebensowenig lässt die Erläuterung der Ursprünge im kanonischen Recht des Mittelalters (6. Kapitel 4.2, S. 161) ermessen, warum der Satz einst eine Revolution bedeutete, deren Auswirkungen noch heute spürbar sind. Man muss wissen, dass das römische Vertragsrecht auf einem numerus clausus von klagbaren Vertragstypen beruht, wonach bloße pacta keine Rechtsverbindlichkeit entfalten (S. 73). Ohne [<<16] Kenntnis der romanistischen Grundlagen bleibt unverständlich, warum auf Basis von pacta sunt servanda in Europa über die Jahrhunderte hinweg ein einheitliches Vertragsrecht wachsen konnte, das derzeit wieder auf dem Prüfstand steht (21. Kapitel 1.2.2.2, S. 467).
Was wir als Anfänge wahrzunehmen glauben, „sind schon ganz späte Stadien“ (Jacob Burckhardt). Rom steht am Ende der Antike und die Menschheit hat bereits vor Griechenland, Israel oder Ägypten Tausende von Jahren erlebt, die von den altsteinzeitlichen Jäger- und Sammlergesellschaften über Viehzucht und Ackerbau im Neolithikum bis zu den ersten schriftlichen Quellen reichen. Die Lehre der „Rechtsgeschichte“ kann weder „vollständig“ sein noch eine „objektive“ Auswahl treffen. Die vorliegende Darstellung will einen ersten Zugang zum Fach und zur Welt des positiven Rechts eröffnen. Dazu gehört auch die Entdeckung, dass Vergangenheit keine Vorgeschichte der Gegenwart, sondern ein eigenständiges und zugleich fremdes Gebiet ist. Das altrömische Recht gestattet es, unter Stichworten wie „strukturelle Mündlichkeit“, „Form“, „Gewalt“, „Rache“, „Selbsthilfe“ oder „Einschaltung von Dritten“ Merkmale archaischer Rechtskulturen exemplarisch zu behandeln (z. B. S. 43, 1. Kapitel 3, S. 47., S. 132, 136). Vom jüngeren römischen Recht der Klassik oder Spätantike führen dagegen viele Linien zur Moderne. Diese Linien verlaufen aber nicht auf direktem Wege, oft sind sie verschlungen oder nur schwach ausgeprägt, sie können auch ganz abbrechen oder sich verlieren, um später an unvermuteter Stelle wieder aufzutauchen.
Mit dem integralen Konzept des vorliegenden Überblicks soll also dem Bedürfnis nach einer Kurzdarstellung entsprochen werden, die auch dem antiken Recht einen Platz zuweist. Die Stoffauswahl in den ersten vier Kapiteln über römisches Recht erfolgt mit Blick auf Entwicklungen und Begriffsbildungen, die über das Mittelalter hinaus bis in die Neuzeit oder Gegenwart reichen. Dies ermöglicht es, Vorgänge von langer Dauer (long durée) gegenüber Zäsuren schärfer zu akzentuieren. Insgesamt folgt die Darstellung sowohl chronologischen wie systematischen Gesichtspunkten. Wo das chronologische Schema Gefahr läuft, zur bloßen Aufzählung von Ereignissen zu werden, treten systematische Gesichtspunkte in den Vordergrund. So wird zum Beispiel der juristische Humanismus (9. Kapitel, S. 209) im Anschluss an das Kapitel über die Renaissance [<<17] der Rechtswissenschaft in Bologna behandelt, obwohl die nachfolgend erörterten rechtlichen Strukturen des Feudalsystems (10. Kapitel, S. 223) schon viel früher entstanden sind. Bisweilen werden einzelne Stoffgebiete vom chronologischen Ende her vorgestellt, um mehr Hier und Jetzt in die Lehre der Rechtsgeschichte zu bringen. Dies erscheint vor allem dann gerechtfertigt, wenn bestimmte, bereits überwunden geglaubte Merkmale früher Rechtskulturen in der Gegenwart wieder in Erscheinung treten. Als Beispiele seien die um die Gemeinsamkeiten von Schadensersatz und Strafe (punitive damages), von Schuld- und Familienrecht oder die um Verschuldens- versus Erfolgshaftung geführten Debatten genannt. Im Übrigen war beabsichtigt, die in der Vorlesung bewährte Darstellung der Abfolge des Geschehens so weit als möglich zu erhalten.
Nachfolgend sei noch ein Überblick über die wichtigsten Stationen der Darstellung gegeben.
2. Vom römischen Recht zum europäischen ius commune
Die uns bekannte Geschichte des römischen Rechts umfasst mehr als tausend Jahre, sie reicht von den ersten Regelungen der Könige, den sogenannten leges regiae aus dem späten 6. Jahrhundert v. Chr., über das um 450 v. Chr. verfasste Zwölftafelgesetz bis zu Justinians Gesetzgebung im 6. Jahrhundert n. Chr. Man pflegt drei Zeitabschnitte zu unterscheiden: die republikanische, klassische und nachklassische Epoche. Die republikanische Zeit erstreckt sich von der Vertreibung der Könige im 5. Jahrhundert v. Chr. bis zur Zeit des Prinzipats, also des gemäßigten Kaisertums, das mit Augustus (63 v. Chr.–14 n. Chr.) seinen Anfang nimmt. Mit Augustus beginnt zugleich die klassische Epoche, in der die römische Rechtswissenschaft ihre volle Kraft und Eigenart entfaltet. Sie wird von der Nachklassik abgelöst, die mit der Wirtschaftskrise des 3. Jahrhunderts n. Chr. beginnt und bis zum Ende der Antike reicht.
Das römische Recht ist keine systematische Einheit, sondern über die Jahrhunderte hinweg aus mehreren Einzelquellen in Schichten gewachsen. Am Anfang steht das Zwölftafelgesetz, vermutlich ein Ergebnis der zwischen Patriziern und Plebejern geführten Ständekämpfe. Mehr als [<<18] jede spätere literarische Quelle vermitteln die Zwölf Tafeln einen Einblick