Rechtsgeschichte. Stephan Meder
der vindicatio ist also bloße Scheingewalt, sie darf durch Berührung und Aussprechen der Formel nur behauptet (dicta), nicht aber tatsächlich ausgeübt werden (Heumann-Seckel, S. 626). Wem die Sache wirklich zusteht, entscheidet nicht die Gewalt, sondern das Recht. Wieder liegt es nahe anzunehmen, dass den rechtlichen Handlungen ein Szenario zum Vorbild dient, wo derjenige, der einen Anspruch auf die Sache zu haben glaubt, diese nicht nur der Form halber, sondern tatsächlich sich nehmen wird (1. Kapitel 3, S. 47.).
Der Manzipationserwerber bedient sich derselben Formel wie der Kläger im Eigentumsprozess. Bei der mancipatio erklärt der Veräußerer durch Schweigen jedoch sein Einverständnis mit der Ergreifung. Dagegen streitet der Beklagte bei der vindicatio mit dem Kläger, indem er die contravindicatio vollzieht: Auch er berührt die Sache mit dem Stab (vindicta) und spricht die Formel. Auf Befehl des Gerichtsherrn müssen beide die Sache dann loslassen. Der Kläger fragt anschließend den Beklagten, warum er vindiziere (herausverlange). Dieser antwortet, weil er Eigentümer sei. Schließlich behaupten die Parteien unter Eid (sacramentum), der andere habe jeweils zu Unrecht vindiziert. Letztlich geht es darum zu beweisen, wem die Sache eher gehört als dem Gegner. Die Entscheidung fällt der Gerichtsherr. Sie betrifft nur das Verhältnis der Beteiligten. Ob die Sache möglicherweise einem Dritten gehört, wird nicht erörtert.
Der Eigentümer kann seine Sache im Rahmen eines Eigentumsprozesses von jedem herausverlangen, bei dem er sie findet, ohne dass es darauf ankäme, ob der augenblickliche Besitzer für den Erwerb bezahlt hat, ob sie dem Eigentümer gestohlen wurde oder sonst abhanden gekommen ist oder ob er sie freiwillig aus der Hand gegeben hat. Wer eine Sache im Wege der mancipatio erworben hat, muss daher jederzeit damit rechnen, dass ein Dritter nachträglich als Eigentümer auftritt und sie im Eigentumsprozess herausverlangt. Bei solchen Rechtsproblemen, die wir heute unter dem Stichwort „gutgläubiger Erwerb vom Nichtberechtigten“ erörtern, zeigt sich eine weitere Besonderheit der mancipatio. [<<35]
Die modernen Regelungen über den gutgläubigen Erwerb vom Nichtberechtigten dienen dem Schutz des Rechtsverkehrs: Ist der Veräußerer einer Sache nicht Eigentümer und nicht zur Verfügung befugt, so kann im Grundsatz dennoch Eigentum erworben werden (§§ 932 ff. BGB). Dagegen macht die mancipatio den Erwerber nur dann zum Eigentümer, wenn es auch der Veräußerer gewesen ist. Entsteht nachträglich ein Streit über das Eigentum an der Sache (vindicatio), so ist der Manzipationserwerber gezwungen, sich gegenüber dem von dritter Seite geltend gemachten Eigentumsherausgabeanspruch zu verteidigen. Zur Unterstützung kann er sich hier der Gewährschaftshilfe (auctoritas) seines Veräußerers (auctor) bedienen. Hintergrund ist der Gedanke, dass der auctor über das bisherige Schicksal der Sache meist besser unterrichtet ist als der Erwerber. Unterlässt dieser die Hilfeleistung oder gelingt dem Dritten der Nachweis der Unrechtmäßigkeit des Besitzes, dann haftet er dem Erwerber für den doppelten Betrag der Manzipationssumme. Die Gewährschaft (auctoritas) führt also zu einer Verstärkung der Rechtsposition des Manzipationserwerbers und dient insoweit auch dem Schutz des Rechtsverkehrs. Dieser Bestimmung der auctoritas ist der moderne Begriff ‚Autorität‘ entsprungen, worauf noch zurückzukommen ist (S. 81).
Als Zug-um-Zug-Geschäft erzeugt die mancipatio keine ‚Distanzwirkung‘ im Sinne von zeitlich aufgeschobenen oder weiterwirkenden Verpflichtungen. Hier liegt der Hauptunterschied zum nexum, einem Darlehnsgeschäft. Das Darlehn gehört zu den ersten Geschäften, die zeitliche Distanzwirkung entfaltet haben. Die Abwicklung der Leistungen erfolgt hier nicht simultan, sondern sukzessiv. Der Darlehnsgeber muss vorleisten und läuft damit Gefahr, dass der Empfänger das Geld nicht rechtzeitig oder nicht in der geschuldeten Höhe zurückbezahlt. Auch bei einem modernen Fernabsatzgeschäft erfolgt der Austausch von Leistungen nicht sofort und gleichzeitig, sondern in Form eines zeitlich gestreckten Vorgangs. So trägt etwa im E-Commerce der Händler das Vorleistungsrisiko, wenn er vor Eintreffen der Zahlung an den Besteller liefert. Allerdings tritt hier neben das zeitliche noch ein weiteres, auf räumlicher Distanz beruhendes Risiko: Da die Beteiligten physisch nicht zusammentreffen, kann [<<36] die Identität des Kunden nicht oder nur mit Schwierigkeiten überprüft werden. Bestehen Zweifel an dessen Vertrauenswürdigkeit, so muss der Händler sich z. B. durch eine Lieferung per Nachnahme oder Vorkasse absichern. Auf diese Weise kann er ein der Zug-um-Zug-Leistung vergleichbares Maß an Sicherheit gewinnen (dazu näher Meder, Bezahlen im E-Commerce, JZ 2004, 503).
Auf der Notwendigkeit einer Absicherung des Vorleistungsrisikos beruht auch die Eigenart des nexum (Fesselung). Seinen Namen verdankt es dem Umstand, dass der Darlehnsnehmer durch den Empfang des Geldes, das ihm vor Zeugen zugewogen wurde, buchstäblich in die Gewalt des Gläubigers gerät. Kann er sich nicht rechtzeitig durch Rückzahlung lösen, so fällt er, ohne dass es einer gerichtlichen Verurteilung bedarf, in die Schuldknechtschaft des Geldgebers, bei dem er die Schuld abdienen muss. Das frührömische Recht zeigt also seine ganze Härte, um die Risiken zu kompensieren, die mit einer zeitlichen Distanzwirkung verbunden sind. Die Zahlung der Lösungssumme ist auf dieser frühen Stufe des Rechts noch nicht Gegenstand einer Pflicht im heutigen Sinne, sondern in erster Linie Mittel zur Haftungsabwehr. Der Ablösung des Haftenden dient die nexi liberatio (oder solutio per aes et libram). Sie regelt insbesondere den Fall, in dem nicht der Haftende selbst, sondern ein Dritter für diesen die Lösungssumme bezahlt. Das nexum und die nexi liberatio sind bereits gegen Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. außer Übung gekommen.
Neben die beiden ältesten römischen Vertragstypen tritt die stipulatio, die in den Zwölf Tafeln ebenfalls erwähnt ist (II, 1.b). Hergang, Gestalt und Funktion bleiben jedoch weitgehend im Dunkeln. Abermals sind es die Institutionen des Gaius, die uns über Einzelheiten informieren (III, 92 ff.). Auch die stipulatio verlangt die Einhaltung eines in den Einzelheiten genau festgelegten Rituals. Auch sie ist – jedenfalls der Form nach – ein einseitiges Geschäft. Nur einer der beiden Vertragspartner ist aktiv. Der andere ist zwar anwesend, tut aber nichts, schweigt oder sagt allenfalls ein einziges Wort, während der andere den Vertrag formuliert. [<<37]
Die stipulatio ist ein mündliches Schuldversprechen, das auf einer bestimmten Frage- und Antwortform beruht. Sie ist einfach zu handhaben, nur drei Voraussetzungen müssen erfüllt sein: Gegenwart der Parteien, die vorausgehende – mündlich gestellte – Frage des Gläubigers unter Verwendung des Wortes spondere und die sofortige und entsprechende Antwort des Schuldners (Beispiel: Versprichst Du mir, 100 zu geben? [centum mihi dare spondesne?] Ich verspreche! [spondeo!]). Der stipulatio sollte die Zukunft gehören, ihre praktischen Vorteile springen ins Auge: Auf die Mitwirkung anderer ist sie nicht angewiesen. Im Unterschied zur mancipatio muss die Gegenleistung nicht sofort erbracht werden. Auch bedarf es keiner übermäßigen Kompensation für den Verzicht auf sofortige Gegenleistung, wie es beim nexum der Fall ist, wenn dem Geldgeber eine Rechtsgewalt auf den Körper des Geldnehmers eingeräumt wird. Schließlich erübrigt sich eine symbolische Darstellung der Gegenleistung, welche noch die mancipatio nummo uno erforderte. Erstmals kann hier von einem Schuldverhältnis im modernen Sinne gesprochen werden, da die Beteiligten in den Rollen von Gläubiger und Schuldner auftreten.
Die durch die Antwort (responsio) des Schuldners begründete Verpflichtung besteht im Prinzip unabhängig von dem mit dem Geschäft verfolgten wirtschaftlichen Zweck. Die Parteien müssen ihren Willen nur formgerecht geäußert haben. Hier zeigt sich ein grundlegender Unterschied zum modernen Recht, das auf dem Prinzip der Formfreiheit beruht. Zwar kennt auch die gegenwärtige Rechtsordnung eine Vielzahl von Formvorschriften. Doch haben diese lediglich abgeleitete Funktionen zu erfüllen, sie dienen in erster Linie äußerlichen Zwecken der Beweissicherung, Verkehrssicherheit, Rechtssicherheit und neuestens auch zunehmend der Beseitigung von Informationsasymmetrien (S. 465). Dagegen sind die Formerfordernisse im altrömischen Recht Geltungsgrund und eigentliche Wirksamkeitsvoraussetzung von Rechtsgeschäften.
Als Rom während der jüngeren Republik (3. bis 1. Jahrhundert v. Chr.) ansetzte, die Weltherrschaft zu erringen und zunehmend mit fremden Rechtskulturen in Kontakt trat, sind die strengen Formen der altrömischen Stipulation allmählich gelockert worden.