Rechtsgeschichte. Stephan Meder
Die Teilung des Reiches
Der Schwerpunkt des römischen Reiches entfernt sich nunmehr zunehmend von Italien und von Rom. Es wird immer schwieriger, das Reich als Einheit zu regieren. Trotz wiederholter Raubzüge von germanischen Stämmen, zunächst vor allem in den westlichen Regionen, bemüht man sich, die Grenzen des Reiches entlang der Rhein-Donau-Linie zu halten. Die Germanen stehen ihrerseits unter dem Druck einer weiträumigen Wanderungsbewegung anderer Völker, insbesondere der gefürchteten Hunnen. Man vermutet, dass schon frühzeitig zwischen Ost- und Westgermanen unterschieden wurde. Zu den Ostgermanen zählen die [<<105] Wandalen, Burgunder und Goten. Da diese Völker alle aus dem Norden gekommen waren, kann man auch die skandinavischen Volkskreise darunter erfassen. Westgermanen sind die eigentlich deutschen Stämme: Franken, Sachsen, Schwaben, Bayern, aber auch die später in Italien sesshaft gewordenen Langobarden und die Angelsachsen. Im 4. Jahrhundert dringen die Goten auch in die östlichen Teile des Reiches ein und nähern sich Konstantinopel, der neuen Hauptstadt für den Osten. Theodosius I. (379 – 395 n. Chr.) war der letzte große Feldherr unter den Kaisern. Ihm gelingt es, die Lage noch einmal in den Griff zu bekommen – allerdings nur um den Preis eines größeren Einflusses von Barbaren.
Nach dem Tod von Theodosius I. (395) erfolgt die Teilung des römischen Reiches in ein west- und ein oströmisches Reich. In Westrom regieren seitdem Honorius (395 – 423) und Valentinian III. (425 – 455). Letzter weströmischer Kaiser ist Romulus Augustulus, der 476 von dem germanischen Söldnerführer Odoaker gestürzt wird, was zugleich die Auflösung des weströmischen Reiches bedeutet. In Italien, dem Kernland des römischen Westreichs, tritt der Ostgotenkönig Theoderich der Große (493 – 526) die Rechtsnachfolge der weströmischen Kaiser an. Theoderich handelt im Auftrag des oströmischen Kaisers Zeno, als er den Usurpator Odoaker gewaltsam absetzt. Zur Legitimation seiner Herrschaft beruft er sich ausdrücklich auf das römisch-kaiserliche Erbe, sein regnum soll „Imitation“ des oströmischen Kaisers und weströmischer Bestandteil des imperium romanum sein. Dieses Streben nach Kontinuität findet auch Ausdruck in einem Rechtstext (Edictum Theodorici), den wahrscheinlich Theoderich hat aufzeichnen lassen (Nehlsen). Von den Ostgoten zu unterscheiden sind die Westgoten, die nicht im Kernland, sondern im ehemaligen weströmischen Provinzialland, dem römischen Gallien siedeln. Auf die rege Gesetzgebungstätigkeit der Westgoten ist noch zurückzukommen (5. Kapitel 2.1, S. 129).
In den germanischen Nachfolgestaaten gilt für die Rechtsunterworfenen römischer Herkunft weiterhin das römische Recht. Der Grund hierfür liegt im römischen Personalitätsprinzip. Wie bereits angedeutet, standen nach diesem Prinzip Nichtrömer (peregrini) unter ihrem Heimatrecht und blieben zu selbständiger Gesetzgebung und Rechtspflege befugt (2. Kapitel 4, S. 66.). Voraussetzung war lediglich, dass sie derselben [<<106] Nation angehörten. So wurden im römischen Reich lebende Athener nach athenischem Recht, Alexandriner nach alexandrinischem Recht beurteilt. Für römische Bürger galt das ius civile und für den Rechtsverkehr mit oder unter Peregrinen das ius gentium. Da nun die Nachfolgestaaten das Personalitätsprinzip auch nach Auflösung des weströmischen Reiches noch anerkannt haben, wurden Einwanderer auf dem ehemaligen römischen Territorium nach ihren Stammesrechten und die römische Bevölkerung nach römischem Recht beurteilt. Diese Tatsache hat sich für die Wirkungsgeschichte des römischen Rechts als überaus folgenreich erwiesen. Denn das Personalitätsprinzip verhalf dem römischen Recht dazu, auch nach dem Untergang des weströmischen Reichs innerhalb dieses Gebiets noch als geltendes Recht anerkannt zu werden. Die römische Rechtstradition lebte ferner in den Gesetzen der Germanen für die in den eroberten Gebieten lebenden Römer (Leges Romanae) sowie in den Germanenrechten selbst (Leges) weiter (S. 135).
Allerdings war der überlieferte Stoff den Zeitgenossen nur in grober Vereinfachung fassbar. Bis zum 11. Jahrhundert überdauerte das römische Recht in Form des ‚Vulgarrechts‘. Darunter versteht man Rechtsbildungen, die in den Zeiten des Niedergangs und nach Auflösung des weströmischen Reiches an die Stelle der verfeinerten Ausdruckstechnik und Methode der klassischen Juristen getreten sind. Es gewinnen Rechtsvorstellungen juristischer Laien oder halbgebildeter Rechtspraktiker an Boden, die die Substanz des klassischen Rechts vielfach missdeuten und verfälschen. ‚Vulgarrecht‘ ist also kein rechtssystematischer, sondern ein rechtskultureller Terminus. Es wäre jedoch voreilig, den spätantiken Juristen pauschal jede Fähigkeit zur Beherrschung der Feinheiten des klassischen Rechts abzusprechen. Bis zur Auflösung des weströmischen Reiches gibt es in den kaiserlichen Kanzleien und in den Rechtsschulen Juristen mit hervorragenden Rechtskenntnissen. Der alte rechtskulturelle Vorsprung des Westens ist jedoch schon mit dem in Ostrom unter Theodosius II. 429 begonnenen und 439 für das Gesamtreich in Geltung gesetzten Codex Theodosianus (S. 101) gebrochen worden. Die mit diesem Gesetzbuch selbstbewusst ergriffene Führung lässt sich das oströmische Reich nicht mehr nehmen. Erst im 7. Jahrhundert kommt es im byzantinischen Italien zu einem allmählichen Versiegen der geistigen Anstrengungen um das Recht. [<<107]
Die Vulgarisierung nimmt damit ihren Anfang, dass die klassischen Juristenschriften nach Mitte des 3. Jahrhunderts zum Teil verloren gehen, zum Teil aber auch schlecht überliefert oder von Bearbeitern entstellt werden. Beispiele für solche Bearbeitungen sind die Pauli Sententiae (5 Bücher) oder die Ulpian Regulae (7 Bücher), die nicht von Paulus oder Ulpian stammen. Es handelt sich um später hergestellte Auszüge (epitome) aus ihren Werken. Die Verfasser sind unselbständige Epigonen, die es nicht wagen, ihre Texte unter eigenem Namen zu veröffentlichen. Zu dieser Literaturgattung gehören auch die Fragmenta Vaticana, eine 1821 im Vatikan entdeckte Sammlung von Exzerpten aus Juristenschriften und Kaiserkonstitutionen sowie die Collatio legum Mosaicarum et Romanorum, ein aus dem 4. Jahrhundert stammender Vergleich zwischen mosaischem und römischem Recht, wobei für letzteres Kaiserkonstitutionen und Exzerpte aus Gaius, Papinian, Paulus, Ulpian und Modestin im Wortlaut angeführt werden. Ein Beispiel für die fortschreitende Vulgarisierung sieht man auch in den Rechtsaufzeichnungen, die nach Auflösung des weströmischen Reiches auf dem nunmehr von germanischen Heerkönigen beherrschten Territorium für die römischen Untertanen angefertigt werden (Leges Romanae). Als wichtigste Quelle dieser Art gilt die Lex Romana Visigothorum (S. 130), die u.a. einen bearbeiteten Auszug aus den ersten drei Büchern der Institutionen des Gaius enthält (epitome Gai).
Um die Wende zum 6. Jahrhundert hat sich das politische Machtzentrum des Imperiums längst nach Osten verlagert. Nach dem Tode des Theodosius I. (395) regieren in Ostrom Arcadius (395 – 408), Theodosius II. (408 – 450), Marcianus (450 – 457) und Leo I. (457 – 474). Mit Justinian I. (527 – 565) gelangt wieder ein Mann römischer Prägung auf den Thron, dem es gelingt, für wenige Jahrzehnte auch die Herrschaft über Italien und den Westen zurückzuerobern. Dann aber setzen sich dort die Germanen wieder durch. Unter Justinian konzentrierte sich bei wirtschaftlicher Prosperität in der neuen Hauptstadt Konstantinopel das gesamte kulturelle und wissenschaftliche Leben. Ostrom vermochte es, die in Wellen einströmenden Völker entweder schon an der Grenze abzuwehren oder durch Verträge zur Anerkennung der oströmischen Oberherrschaft zu bewegen. Die in Berytos (Beirut) seit dem 3. Jahrhundert als überragend bezeugte Rechtsschule und die in Konstantinopel 425 gegründete [<<108] Hochschule haben verhindert, dass es auch im oströmischen Gebiet zu einer Vulgarisierung des Rechts gekommen ist. Im Unterschied zur klassischen Jurisprudenz sehen diese Schulen ihre Aufgabe vornehmlich in der theoretischen Durchdringung des überlieferten Stoffs. Die Bearbeitung und Fortbildung des Rechts anhand der Lösung praktischer Fälle tritt dabei in den Hintergrund. Den Schulen gebührt das Verdienst, einen neuen Weg zum Studium und zum Verständnis der klassischen Juristen bereitet zu haben. Mit ihrer Tätigkeit haben sie entscheidend dazu beigetragen, dass die Gedanken der klassischen römischen Juristen Eingang in das Gesetzbuch des Kaisers Justinian finden konnten.
4. Die Kodifikation unter Justinian
Bis zur Kodifikation unter Justinian galten noch immer die Zwölf Tafeln als formelle Grundlage des gesamten römischen Rechts. Bis dahin bestand formell auch noch der Gegensatz von ius civile und ius honorarium. In den Jahren 533 und 534 trat an die Stelle des Zwölftafelgesetzes und all dessen, was ihm nachgefolgt war, das kaiserliche Gesetzbuch, mit dem die Arbeit der oströmischen Rechtsschulen zugleich ihren Höhepunkt erreichte.