Rechtsgeschichte. Stephan Meder
vier Teile: Institutionen, Digesten, Codex und Novellen (zur Zitierweise: S. 20). Die Institutionen sind wohl das bedeutendste und am weitesten verbreitete Lehrbuch, das es in der europäischen Rechtsgeschichte gegeben hat. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts haben sie über 660 Ausgaben erlebt. Nach ihrem Vorbild – den Institutionen des Gaius (S. 84 und S. 87) – bringen die Institutionen Justinians das gesamte materielle Recht unter die Einteilung von personae (Personen), res (Sachen) und actiones (Klagen). Dabei steht der als Person durch seine Rechtsfähigkeit definierte Mensch (persona) an erster Stelle, dem anschließend Vermögensgegenstände (res) zugeordnet werden und der schließlich Rechtsschutz (actiones) genießt.
Das Kernstück des Gesetzgebungswerkes sind die in Titel untergliederten 50 Bücher der Digesten (‚Zusammengestelltes‘), auch Pandekten [<<109] (‚Allumfassendes‘) genannt. Dabei handelt es sich um eine in kürzere und längere Abschnitte, sog. Fragmente, gegliederte Sammlung von Auszügen aus Literatur der römischen Jurisprudenz. Nach Justinian soll in den Fragmenten ungefähr ein Zwanzigstel der im 6. Jahrhundert noch verfügbaren klassischen Rechtsliteratur verarbeitet worden sein. Die Digesten wurden durch eine aus Professoren und Rechtspraktikern zusammengesetzte Kommission erarbeitet, darunter der quaestor sacri palatii Triboniam als Vorsitzender und der an der Hochschule in Konstantinopel lehrende Theophilus. Ihre Arbeit bestand vor allem darin, Ausschnitte und Abschriften aus den Klassikertexten anzufertigen. Da man diese Tätigkeit als eine Art von Ausplündern (compilare) ansehen kann, hat man insbesondere diesen Teil des Werkes auch als Kompilation bezeichnet. Die ‚Kompilatoren‘ haben Auszüge aus Werken von ungefähr vierzig Juristen zusammengestellt. Die große Mehrzahl der Auszüge stammt aus der klassischen Periode der römischen Rechtswissenschaft. Aus der Zeit um 100 v. Chr. enthalten die Digesten nur wenige Zeilen, ganze Seiten dagegen noch von um 300 n. Chr.
Justinian selbst sagt in einer seiner Einführungskonstitutionen zu den Digesten, dass die alten Juristenschriften nicht immer unverändert in die Kodifikation übernommen worden sind. Vieles sei im Interesse der Nützlichkeit geändert worden (vgl. Constitutio Tanta, 10). So haben die Redaktoren des Gesetzes die mancipatio beseitigt und durch traditio ersetzt. Auch die in iure cessio ist aus den klassischen Quellen getilgt worden. Wie andere – durch strukturelle Mündlichkeit geprägte – Rechtsinstitute war auch sie schon seit längerem außer Übung gekommen. Die von der Kommission an den klassischen Quellen vorgenommenen Textänderungen pflegt man als Interpolationen zu bezeichnen. Die Interpolationenforschung begann im 16. Jahrhundert (S. 217) und hat mit der ‚neuhumanistischen‘ Richtung im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht (14. Kapitel, S. 299). Kaum eine Digestenstelle blieb vom Verdacht des Eingriffs durch die Kommission verschont. Heute wird das Gewicht der Änderungen längst nicht mehr so hoch wie früher eingeschätzt. Dafür spricht schon der Umstand, dass bei der kurzen Zeit, die der Kommission zur Abfassung des Gesetzeswerkes zur Verfügung stand, Veränderungen an den Klassikertexten über das von Justinian angeordnete Maß hinaus kaum vorgenommen werden konnten. [<<110]
Neben den Institutionen und Digesten enthält das Werk den 534 veröffentlichten Codex, eine zwölf Bücher umfassende chronologische Ordnung von Kaiserkonstitutionen aus rund vier Jahrhunderten – von Hadrian bis Justinian. Dieser Codex heißt auch ‚Codex zweiter Lesung‘ (repetitae praelectionis). Denn 529 war bereits ein erster Codex mit Gesetzeskraft verkündet worden. Der erste, nicht erhaltene Codex ist aus den Codices Gregorianus, Hermogenians und Theodosianus sowie danach ergangenen Konstitutionen zusammengestellt worden. Den letzten und vierten Teil des Gesetzgebungswerks bilden die nach 534 ergangenen Konstitutionen Justinians – die sogenannten Novellen. Sie wurden später hinzugefügt. Die vier Teile hatten ursprünglich keinen gemeinsamen Namen, erst im Mittelalter sind sie als Corpus iuris civilis bezeichnet worden. Dieser Ausdruck ist seit der Gesamtausgabe der Justinianischen Gesetzgebungswerke durch Dionysius Gothofredus (1583) allgemein üblich geworden (S. 218).
Die erste Fassung des Codex Justinians (529) enthielt noch das theodosianische Zitiergesetz (S. 102), das in der Neufassung von 534 (repetitae praelectionis) getilgt wurde. Der Grund liegt darin, dass Justinian mit Fertigstellung der Digesten (533) jenes Ziel erreicht hat, an dem Theodosius II. 100 Jahre vorher gescheitert war, nämlich auch das Juristenrecht (ius) zu kanonisieren. Hinzu kommt, dass Justinian glaubte, durch die Gesetzgebungskommission seien alle Meinungsverschiedenheiten beseitigt worden. In seinen Einführungskonstitutionen behauptet er wiederholt, das neue Gesetz sei frei von Widersprüchen:
Einander widersprechende Rechtssätze können aber in diesem Gesetzbuch keinen Raum beanspruchen, und man wird sie auch nicht finden, sobald man mit scharfem Verstand die Gründe für den Unterschied gehörig prüft. Es gibt demgegenüber nämlich immer irgend etwas, sei es neu eingeführt oder an versteckter Stelle stehend, das den beklagten Missklang auflöst, der Sache ein anderes Aussehen gibt und den Eindruck eines Widerspruches beseitigt (Constitutio Tanta, 15).
Nichts ist weniger wahr als diese Behauptung. Juristen haben bekanntlich die Neigung, unterschiedliche Meinungen zu vertreten. Die römischen Juristen bilden hier keine Ausnahme (S. 84). Außerdem ist das [<<111] Spektrum an Meinungen innerhalb der römischen Jurisprudenz über die Jahrhunderte hinweg stetig gewachsen und weiter ausdifferenziert worden. Im Rahmen einer bloßen Zusammenstellung von Rechtsliteratur können die mit Juristenkontroversen zwangsläufig verbundenen Widersprüche nicht alle beseitigt werden. In einzelnen Fällen lässt sich die Widersprüchlichkeit von Fragmenten aber auch darauf zurückführen, dass eines von beiden unecht ist. Die Glossatoren prüften später „mit scharfem Verstand die Gründe“ für die Widersprüche und suchten die voneinander abweichenden Stellen zu harmonisieren (8. Kapitel 2, S. 197.). Da Justinian sich in dem Glauben wiegte, durch seine Kodifikation alle Widersprüche erledigt zu haben, verbot er, die Digesten zu kommentieren. Er verband damit die Hoffnung, ein Wiederaufleben alter Streitfragen sowie nachträgliche Verfälschungen und Entstellungen seines Werks verhindern zu können:
Es erscheint uns angebracht, was uns auch schon am Anfang richtig erschienen ist, als wir dieses Werk mit Gottes Beistand in Auftrag gegeben haben, auch jetzt noch einmal gesetzlich zu bekräftigen, daß nämlich niemand es wage – weder diejenigen, die gegenwärtig über Gelehrsamkeit verfügen noch diejenigen, die später in deren Besitz gelangen – diesen Rechtssätzen Kommentare hinzuzufügen (Constitutio Tanta, 21).
Wer der Meinung war, eine Rechtsfrage sei in den Digesten nicht beantwortet worden, sollte sich um Rat an den Kaiser wenden:
Weil aber nur göttliche Dinge vollkommen sind, die menschliche Rechtsordnung dagegen so beschaffen ist, daß sie sich stets in eine unbestimmte Zukunft bewegt und es in ihr nichts gibt, was dauernden Bestand haben kann – denn die Natur ist begierig, stets neue Formen hervorzubringen –, rechnen wir fest damit, daß späterhin neuartige Rechtsgeschäfte auftauchen werden, die noch nicht festgeknüpften rechtlichen Bindungen unterworfen sind. Wenn daher irgend etwas derartiges geschehen sollte, ist ein kaiserliches Rechtsmittel zu erbitten, weil Gott das hohe kaiserliche Amt zu dem Zweck über die menschlichen Verhältnisse gesetzt hat, daß es alles, was neu entsteht, verbessern, befrieden und angemessenen Formen und Regeln übergeben kann (Constitutio Tanta, 18). [<<112]
Recht ist im Denken der römischen Antike kein Kommando – kein vom Staat ausgehender, menschliche Handlungen leitender Befehl. Wo die römische Tradition wirksam wird, erscheint das staatliche Gesetz vielmehr als ein dienendes Instrument, das eine bereits vorhandene Rechtsordnung klärt, ändert oder erneuert und als Medium und Quelle der eigenen Geltung voraussetzt (Behrends). Die Gesetzgebung Justinians steht in Einklang mit der augusteischen Idee von der res publica restituta, der unter monarchische Obhut genommenen und wiederhergestellten Republik. Danach dienen die novellierenden Rechtsetzungen der Kaiser einer bereits bestehenden Ordnung und sind auf sie bezogen. Justinian erlässt das Kommentierungsverbot auch deshalb, weil die konkrete Verwirklichung dieser vorgegebenen Ordnung schwanken und durch den Menschen immer wieder verdorben werden kann.
Allerdings ist das Kommentierungsverbot schon zu Zeiten Justinians übertreten worden. Die byzantinische Rechtspraxis war durch das umfangreiche, in Latein verfasste Gesetzeswerk überfordert. Um sein Verständnis zu erleichtern, entstehen in den byzantinischen Rechtsschulen Anmerkungen und Paraphrasen, die zum Teil noch von den Kommissionsmitgliedern selbst herrühren. Zur