Rechtsgeschichte. Stephan Meder
Romana Visigothorum (5. Kapitel 2.1, S. 129) einen schmalen Auszug aus dieser bis zum Jahr 291 geführten Sammlung. In dem ähnlich konzipierten Codex Hermogenianus sind die – überwiegend von Hermogenian während seiner Kanzleitätigkeit selbst entworfenen – Reskripte Diokletians aus den Jahren 293 und 294 gesammelt. In der Folgezeit entstehen Neuausgaben, die um jüngeres Material erweitert werden. Nach dem Vorbild der Codices Gregorianus und Hermogenianus ist eine amtliche Sammlung der Kaiserkonstitutionen durch Theodosius II. (408 – 450) zunächst im Osten verkündet, von Valentinian III. (425 – 455) für den Westen übernommen und für das Gesamtreich 439 in Kraft gesetzt worden (S. 107). Dieser fast vollständig erhaltene, ebenfalls in der kaiserlichen Kanzlei entstandene Codex Theodosianus umfasst sechzehn, in einzelne Titel gegliederte Bücher mit über 3000 chronologisch geordneten Konstitutionen. Die [<<101] maßgebliche moderne Ausgabe des Codex Theodosianus stammt von Th. Mommsen (s. Literaturhinweise).
Die Eingriffe der Kaiser in die Rechtspflege beschränken sich nicht auf den Erlass von Konstitutionen. Auch den Umgang mit der klassischen Rechtsliteratur suchen sie zu kontrollieren. Denn die alten Juristen genießen nach wie vor hohes Ansehen. Hinzu kommt, dass es in der Spätantike Sache der Parteien oder ihrer Anwälte ist, dem Richter die entscheidungserheblichen Normen vorzutragen. Da die Meinungen der alten Juristen noch immer als Rechtsquelle gelten, stützen die Anwälte ihre Einlassungen vor Gericht nicht nur auf kaiserliche Verlautbarungen, sondern auch auf Juristenrecht, das die Richter dann zu berücksichtigen haben. Die Richter aber sind schlecht ausgebildet, sie geraten in Schwierigkeiten, wenn sich streitende Parteivertreter auf jeweils abweichende Juristenmeinungen berufen. Die Prozesse laufen so Gefahr, mehr und mehr zu einer Art Lotteriespiel zu verkommen.
Zur Beseitigung der Missstände versucht Theodosius II. neben Gesetzen (constitutiones, leges) auch das vielschichtige Juristenrecht (ius) in seinen Codex eingliedern zu lassen. Das Vorhaben kann jedoch nicht verwirklicht werden – vermutlich, weil sein quaestor sacri palatii der schwierigen Materie nicht gewachsen ist. In den Codex Theodosianus gelangt aber ein Normtext aus dem Jahre 426, der Kriterien zur Beschränkung und Kontrolle der Anwendung von Juristenschriften aufstellt. Den als ‚Zitiergesetz‘ bezeichneten Text pflegt man als Beispiel für den Niedergang der Rechtskultur im Dominat anzusehen, weil er die klassischen Juristen zu bloßen Rechnungsposten einer juristischen Kalkulation herabwürdige und autoritatives Denken an die Stelle selbständiger Forschung treten lasse (Bretone). Vielleicht aber ist das Zitiergesetz auch nur ein Notbehelf, um den Einfluss von Juristenschriften auf den Prozess berechenbar zu halten:
Wir bestätigen die Geltung sämtlicher Schriften von Papinian, Paulus, Gaius, Ulpian und Modestin, so daß also Gaius dasselbe Ansehen genießt wie Paulus, Ulpian und die übrigen und daß Belegstellen aus seinem ganzen Werk angeführt werden können. Auch die Erkenntnisse der Autoren, deren Erörterungen und Ansichten alle die Genannten in ihre Werke aufgenommen [<<102] haben, erklären wir für gültig, z. B. die des Quintus Mucius Scävola, Sabinus, Julian und Marcellus sowie all derer, die von den Genannten ständig angeführt werden, vorausgesetzt, daß der Text ihrer Werke – in Anbetracht der altersbedingt unsicheren Überlieferung – durch den Vergleich mehrerer Handschriften gesichert ist. Wo aber unterschiedliche Ansichten vorgebracht werden, dort soll die größere Zahl der Autoren maßgeblich sein, oder wenn das Zahlenverhältnis gleich ist, dann soll das Ansehen der Seite den Vorrang haben, auf der sich die herausragende Einsicht Papinians hervortut, des Mannes, der zwar zwei anderen unterliegt, gegenüber einzelnen jedoch die Oberhand behält. Auch setzen wir fest, daß die kritischen Anmerkungen, die Paulus und Ulpian dem Werk Papinians beigegeben haben, ungültig sind, wie schon früher angeordnet. Wo aber gleich viele Stimmen aus der Zahl der Autoren angeführt werden, die gleiches Ansehen genießen sollen, dort mag das Ermessen des Urteilenden abwägen, welcher Seite er folgen soll. Ferner bestimmen wir, daß die Sentenzen des Paulus stets einbegriffen sind. Gegeben am 7. November [426] zu Ravenna, unter dem zwölften Konsulat des Kaisers Theodosius II. und dem zweiten des Kaisers Valentinian III. (Römische Rechtstexte, 14, 17).
Die Mehrzahl der Kaisergesetze ist im Zusammenspiel von Rhetoren und Juristen konzipiert worden. Die oft pompös ausstaffierten und rhetorisch aufgepeppten Texte dienen nicht nur der Regelung rechtlicher Probleme, sondern auch den Erfordernissen staatlicher Repräsentation und der Herrscherpropaganda. Für die Sachregelungen gilt dies jedoch nur mit Einschränkungen. Sie beruhen inhaltlich auf der Vorarbeit in den Kanzleien. Die Leistungen der Kanzleijuristen sind nicht zu unterschätzen. Ihre Arbeitsweise trägt durchaus selbständigen Charakter, sie lässt sich weder auf klassische noch auf vulgare Stilformen festlegen (Voß). Viele Sachregelungen sind von dem ernsthaften Bemühen der Kanzleijuristen um eine Anpassung des traditionellen Rechts an gewandelte rechtliche und gesellschaftliche Bedingungen getragen. So überrascht es nicht, dass auch im Wege der Kaisergesetzgebung Rechtsinstitute von bleibender Bedeutung geschaffen wurden. [<<103]
2. Rechtsfortbildung durch Kaiserrecht
Berühmtes Beispiel für eine Rechtsfortbildung durch Reskripte ist das durch Diokletian geschaffene Rechtsinstitut der laesio enormis (Verletzung über die Hälfte). Den Entscheidungen liegt der Sachverhalt zu Grunde, dass der Eigentümer eines landwirtschaftlichen Anwesens, offenbar um den allgemein bedrückenden ländlichen Verhältnissen zu entkommen, weit unter seinem Wert verkauft hat (C. 4.44.2). Das Verbot der laesio enormis bedeutet eine Einschränkung der Privatautonomie zum Schutz des Verkäufers vor nachteiligen Grundstücksgeschäften. Diokletian will mit Hilfe der laesio enormis vornehmlich die Landflucht eindämmen, sie passt aber auch in die allgemeine Linie seiner Bemühungen um die Festlegung eines iustum pretium (gerechter Preis). Mit dem Problem des gerechten Preises hatten sich bereits die Klassiker befasst. Repräsentativ ist die Auffassung des Paulus, der es für legitim hält, dass die Parteien einander zu übervorteilen trachten (D. 19.2.22.3). Das Aufgreifen der Frage in der Nachklassik und die Abkehr vom klassischen Standpunkt entsprechen allgemeinen Humanisierungstendenzen der Zeit, die zunächst von der stoischen Philosophie, dann aber vor allem vom Christentum gefördert wurden. Überhaupt lässt sich seit Diokletian eine zunehmende Orientierung des Rechts an ethischen Maßstäben registrieren. Danach erscheint es unzulässig, die Höhe des Kaufpreises dem freien Wettbewerb zu überlassen.
Das Verbot der laesio enormis berechtigt den Verkäufer zur Aufhebung des Vertrags, wenn der vereinbarte Preis weniger als die Hälfte des wahren Wertes ausmacht. Beruft er sich auf sein Aufhebungsrecht, so kommt es zur Rückabwicklung des Kaufvertrags. Doch kann der Käufer die Rückabwicklung verhindern, wenn er die Differenz zum vollen, ‚gerechten‘ Preis (iustum pretium) nachzahlt. Spätestens unter Justinian entwickelte sich aus den Einzelentscheidungen Diokletians eine generelle Regel. Die Umkehrung dieser Regel zugunsten des Käufers, der mehr als das Doppelte des Wertes als Kaufpreis zugesagt hat, geht wohl erst auf das Mittelalter zurück, war aber in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen der Neuzeit ebenfalls anerkannt.
Die laesio enormis hat Eingang in die großen Kodifikationen des Naturrechts, etwa in das geltende Österreichische Allgemeine Bürgerliche [<<104] Gesetzbuch (§ 934 ABGB) oder in das französische Recht gefunden (Art. 1674 Code civil). In Deutschland ist die laesio enormis durch § 282 des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs (ADHGB) von 1861 abgeschafft worden. Das BGB hat sie nicht aufgenommen; es schützt nur, und zwar beide Parteien, durch den Wucherparagraphen 138 Abs. 2 BGB. Die Anwendung des § 138 Abs. 2 BGB setzt auf Seiten des Wucherers ein Ausbeutungsbewusstsein und auf Seiten des Bewucherten einen Zustand der Schwäche oder Unterlegenheit voraus. Beides kann in der Praxis häufig nicht nachgewiesen werden. Daher hat sich das Problem heute von der Beispielsnorm des § 138 Abs. 2 BGB auf die Grundnorm des § 138 Abs. 1 BGB verlagert. So sind gemäß § 138 Abs. 1 BGB Grundstückskaufverträge nichtig, wenn zwischen dem Grundstückswert und dem Kaufpreis ein besonders auffälliges, krasses Missverhältnis besteht. Nach der aktuellen Rechtsprechung des BGH soll dies schon dann der Fall sein, wenn der Wert der Leistung knapp doppelt so hoch ist wie derjenige der Gegenleistung (vgl. die Nachweise bei Soergel-Hefermehl, 13. Auflage 1999, Rn. 86 a). Auch außerhalb von Grundstückskaufverträgen berücksichtigt die Judikatur Missverhältnisse zwischen dem Wert der Leistungen. Diese Rechtsprechung bildet nicht das einzige Beispiel dafür, dass römische Rechtsfiguren auch dann einen Weg zurück ins geltende Recht finden können, wenn der Gesetzgeber