Klausurenkurs im Strafprozessrecht. Marco Mansdörfer
jedoch viel freier als ein anderer Amtsträger, der zur Entscheidung von Rechtssachen berufen ist, sodass seine Stellung zumindest mit der eines Richters vergleichbar ist.[8] Das Abstellen auf eine Stellung, die mit der des Richters nach Art. 97 GG nahezu identisch erscheinen muss, schränkt den Anwendungsbereich der Rechtsbeugung entgegen ihrem Wortlaut (Amtsträger) und dem Schutzzweck der Norm zu stark ein. Die Rechtsbeugung soll dem Schutz der innerstaatlichen Rechtspflege vor Angriffen „von innen“ dienen.[9] Derartige Angriffe können ohne Weiteres auch durch den Staatsanwalt innerhalb des Ermittlungsverfahrens erfolgen. Dass der Staatsanwalt bei seiner Entscheidung über die Anklageerhebung laut h.M. an die Rechtsansichten der höchstrichterlichen Rechtsprechung gebunden sein soll, steht dem nicht entgegen (zu diesem Streit sogleich unten). Die Wirkung der Einstellungsverfügung für das Strafverfahren ist mit der des gerichtlichen Nichteröffnungsbeschlusses im Zwischenverfahren vergleichbar; ebenso ist der Beurteilungsmaßstab bei beiden Entscheidungen ungeachtet des Entscheidungsträgers nahezu identisch.[10] Eine durch die Bindung an Präjudizien eingegrenzte Kompetenz in der Rechtsanwendung bei im Übrigen uneingeschränktem Entschließungsspielraum lässt den erforderlichen Grad an sachlicher Unabhängigkeit bei der Entscheidungsfindung nicht entfallen, zumal der Regelung des § 339 StGB kein Erfordernis entnommen werden kann, dass ein Täter in seiner amtlichen Funktion zwingend der judikativen Gewalt angehören muss.
Somit war S bei seiner Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens mit der Entscheidung einer Rechtssache betraut.
cc) Tathandlung: Rechtsbeugung
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Innerhalb der Entscheidung der Rechtssache müsste S das Recht gebeugt haben. Als Recht kommen insbesondere alle Vorschriften des positiven Rechts in Betracht.[11] Bei seiner Entscheidung hat S vor allem das materielle (§ 265a StGB) und das formelle Strafrecht (vor allem § 170 StPO) angewendet. Fraglich ist, ob die hierin erfolgte Rechtsanwendung eine Rechtsbeugung darstellt. Das allgemeine Verständnis der Tathandlung der Rechtsbeugung ist unklar und umstritten.
(1) Ältere subjektive Theorie
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Nach der früher vertretenen subjektiven Theorie sollte es darauf ankommen, dass der Täter bei der Rechtsanwendung gegen seine persönliche Überzeugung gehandelt haben muss.[12] Da S gerade nicht im Widerspruch zu seiner persönlichen Überzeugung, sondern nur zur herrschenden Meinung gehandelt hat, liegt nach dieser Ansicht im Erlass des Einstellungsbeschlusses keine taugliche Rechtsbeugungshandlung.
(2) Pflichtwidrigkeitslehre
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Nach der Pflichtwidrigkeitslehre muss der Täter bei der Rechtsanwendung die ihn treffenden spezifischen Pflichten bei der Wahrheits- und Rechtsfindung verletzt haben. Bei objektiv nicht mehr vertretbaren Entscheidungen, also objektiv klaren Rechtsverstößen sei hiervon stets auszugehen; bei objektiv vertretbaren Entscheidungen komme es auf zugrundliegende sachfremde Erwägungen an.[13] Die materiell-rechtliche Fragestellung, ob bloßes Schwarzfahren den Tatbestand des § 265a StGB verwirklichen soll, ist umstritten. Da S sich entgegen der Rechtsprechung der Literaturansicht angeschlossen hat, lag bereits kein objektiver Rechtsverstoß vor, da sein Handeln im Rahmen der rechtlich vertretbaren Rechtsauslegung lag. Hierin könnte allerdings ein Verstoß gegen das formelle Recht gelegen haben, da fraglich ist, ob der Staatsanwalt im Ermittlungsverfahren nicht an die Entscheidungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung gebunden ist. Allerdings ist auch diese Frage umstritten und es werden verschiedene Ansichten vertreten (näher hierzu sogleich unten).[14] Daher war auch die Anwendung der der Einstellungsverfügung zugrundeliegenden strafprozessualen Regelungen vertretbar und es liegt kein objektiver Rechtsverstoß vor. Zudem ergeben sich keine Hinweise, dass S bei seiner Entscheidung aus sachfremden Erwägungen gehandelt habe. Auch nach dieser Ansicht hat S bei seiner Entscheidung also keine Rechtsbeugungshandlung begangen.
(3) Objektive Theorie und Rechtsprechung
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Nach der herrschenden objektiven Theorie muss der Täter bei seiner Entscheidung das Recht klar verletzt haben und mithin eine Entscheidung getroffen haben, die in klarem Widerspruch zu Recht und Gesetz steht.[15] Zusätzlich verlangt die Rechtsprechung, dass nicht jede unrichtige Rechtsanwendung den Tatbestand der Rechtsbeugung verwirklichen soll, sondern dass der Rechtsbruch einen elementaren Verstoß gegen die Rechtspflege darstellt, bei der der Täter sich bewusst und in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt haben muss.[16] Wie bereits oben geschildert, waren die anzuwendenden Normen des formellen und materiellen Rechts in ihren Voraussetzungen und ihrer Reichweite umstritten. Eine klare und schwerwiegende Verletzung des Legalitätsprinzips ist deshalb nicht zu erkennen, weil die Bindung des Staatsanwalts an die höchstrichterliche Rechtsprechung prozessrechtlich umstritten ist. Mithin liegt in der Entscheidung des S auch nach dieser Meinungsgruppe keine taugliche Rechtsbeugungshandlung.
Mithin stellt der Erlass der Einstellungsverfügung keine tatbestandliche Handlung dar.
b) Zwischenergebnis
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Der objektive Tatbestand ist nicht verwirklicht.
2. Zwischenergebnis
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S handelte daher nicht tatbestandlich.
3. Ergebnis
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S hat sich nicht wegen Rechtsbeugung strafbar gemacht.
II. Strafbarkeit gemäß § 258 Abs. 1, § 258a Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB
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S könnte sich durch Einstellung des Ermittlungsverfahrens und Nichtanklage des J wegen Strafvereitelung im Amt durch Unterlassen nach § 258 Abs. 1, § 258a Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben.
Dafür müsste er absichtlich oder wissentlich ganz oder zum Teil vereitelt haben, dass ein anderer wegen einer rechtswidrigen Tat dem Strafgesetz gemäß bestraft wird oder einer Maßnahme unterworfen wird, § 258 Abs. 1 StGB. Daneben müssten die Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 StGB erfüllt sein und S müsste als Amtsträger gehandelt haben, § 258a Abs. 1 StGB.
1. Objektiver Tatbestand von § 258 Abs. 1, § 258a Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB
a) Tauglicher Täter
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S war als Staatsanwalt Amtsträger gem. § 11 Abs. 1 Nr. 2 lit. a StGB und zur Mitwirkung am Strafverfahren berufen.
b) Strafbare fremde Vortat
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Daneben müsste eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Vortat eines anderen vorgelegen haben. Im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung stellt das Verhalten des J das Erschleichen einer Leistung i.S.d. § 265a Abs. 1 Var. 3 StGB dar und laut Sachverhalt sind alle weiteren Voraussetzungen erfüllt.
c) Vereitelungserfolg
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Darüber hinaus müsste S die Bestrafung des J aus dieser Tat vereitelt haben. Darunter versteht man jede Besserstellung des Täters im Hinblick auf den staatlichen Anspruch auf Verhängung oder Androhung der Strafe oder Maßnahme.[17] Die Tat kann grundsätzlich auch durch Unterlassen begangen werden.[18]
J wurde infolge der Einstellung des Ermittlungsverfahrens nicht bestraft, der Taterfolg ist mithin eingetreten.
d) Vereitelungshandlung durch begehungsgleiches