Klausurenkurs im Strafprozessrecht. Marco Mansdörfer
Unterlassen gebotener Handlung/Quasi-Kausalität
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S hat die zur Erfolgsabwendung gebotene Handlung, die Erhebung der Anklage, unterlassen. Das Unterlassen war auch kausal für den Erfolgseintritt.
bb) Garantenstellung
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Fraglich ist aber, ob S eine Garantenstellung innehat. Eine solche besteht nur bei Personen, die gesetzlich dazu berufen sind, an der Strafverfolgung mitzuwirken.[19] § 152 Abs. 2 StPO begründet für die Staatsanwaltschaft die Pflicht, wegen einer verfolgbaren Straftat einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Gemäß § 170 Abs. 1 StPO muss die Staatsanwaltschaft schließlich die öffentliche Anklage erheben, sofern ein hinreichender Tatverdacht besteht (Legalitätsprinzip).[20] Offen ist aber, wer darüber befindet, ob insoweit eine verfolgbare Straftat i.S.d. § 152 Abs. 2 StPO vorliegt. Hierbei kann das Problem entstehen, dass die Staatsanwaltschaft das Verhalten entgegen der Rechtsprechung für straflos hält oder umgekehrt.[21]
Vorliegend ist S entgegen der Rechtsprechung davon überzeugt, dass das „schlichte Schwarzfahren“ nicht unter den Tatbestand des Erschleichens von Leistungen nach § 265a Abs. 1 Var. 3 StGB fällt. Fraglich ist, ob er an die höchstrichterliche Rechtsprechung gebunden ist. Dies ist umstritten.
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(1) | Im Schrifttum wird eine Bindung teilweise verneint.[22] Argumentiert wird dabei mit der Stellung der Staatsanwaltschaft, welche nach § 150 GVG von den Gerichten unabhängig ist.[23] Ihr obliege es deshalb, die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen einer Straftat in eigener Verantwortung zu beurteilen.[24] Das Legalitätsprinzip begründe zwar die Pflicht der Staatsanwaltschaft strafbare Handlungen zu verfolgen, besage aber nicht, dass die Staatsanwaltschaft über die Strafbarkeit nicht nach ihrer eigenen Auffassung urteilen dürfe.[25] |
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(2) | Die Rechtsprechung und ein Großteil der Literatur gehen hingegen von einer Bindungswirkung aus.[26] Dafür sprechen das Prinzip der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens sowie die Gleichbehandlung vor dem Gesetz i.S.d. Art. 3 Abs. 1 GG.[27] Außerdem sei diese dem Legalitätsprinzip (§ 152 Abs. 2, § 170 Abs. 1 StPO) geschuldet.[28] Für eine Bindungswirkung wird auch das Prinzip der Gewaltenteilung angeführt, weil durch Nichtanklage der Fall der Judikative entzogen werde, welche allein für die Rechtsprechung zuständig ist, Art. 92 GG.[29] |
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(3) | Die besseren Gründe streiten für die zweite Ansicht. Der Staatsanwaltschaft wird ihre Unabhängigkeit nicht genommen, vielmehr steht es ihr frei, eine gegenteilige Rechtsauffassung im Gerichtsverfahren zu vertreten und einen Freispruch zu beantragen.[30] |
Damit war S verpflichtet, an der Strafverfolgung mitzuwirken. Die Voraussetzung für eine Garantenstellung ist erfüllt. Folglich hat S den objektiven Tatbestand des § 258 Abs. 1, § 258a Abs. 1 StGB durch Unterlassen verwirklicht.
2. Subjektiver Tatbestand § 258 Abs. 1, § 258a Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB
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S handelte zumindest bedingt vorsätzlich hinsichtlich der Vortat und mit dolus directus ersten Grades hinsichtlich der Vereitelung der Bestrafung des J aus § 265a StGB. Er wusste auch, dass er als Staatsanwalt zur Mitwirkung an der Strafverfolgung verpflichtet ist. Sein bedingter Vorsatz erstreckte sich mithin auf seine Mitwirkungspflicht sowie seine Amtsträgereigenschaft.
3. Rechtswidrigkeit
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S könnte indes gerechtfertigt gehandelt haben. Da er durch seine Entscheidung, das Strafverfahren einzustellen, als Amtsträger bei der Entscheidung über eine Rechtssache gehandelt hat (siehe oben), bewegte sich sein Verhalten innerhalb des gegenständlichen Bereichs des Tatbestands der Rechtsbeugung. Dessen Untersuchung hat jedoch ergeben, dass sein Verhalten keine strafbare Rechtsbeugungshandlung darstellt. Fraglich ist, ob diesem Umstand eine rechtfertigende Wirkung hinsichtlich der verwirklichten Strafvereitelung im Amt zukommen kann. Dies, wie auch die sonstige Wirkung der nichtverwirklichten Rechtsbeugung für weitere durch die rechtliche Entscheidung verwirklichte Delikte, ist umstritten.
a) Rechtfertigung aus amtlichem Handeln
aa) E.A. rechtfertigende Wirkung der Nichtverwirklichung der Rechtsbeugung
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Nach einer Ansicht soll eine den Tatbestand der Rechtsbeugung nicht verwirklichende Entscheidung bzw. Leitungshandlung in einer Rechtssache bei verwirklichten Delikten einen Spezialfall der Rechtfertigung aus amtlichem Handeln darstellen.[31] Begründet wird dies mit der Tatsache, dass der Gesetzgeber in § 339 StGB eine für die Strafbarkeit im Zusammenhang mit rechtlichen Entscheidungen abschließende Regelung getroffen hat. Der Tatbestand der Rechtsbeugung diene nicht nur dem Schutz der Rechtspflege, sondern umgekehrt auch dem Schutz der inneren Unabhängigkeit der Rechtspflegeorgane. Daher konstituiere die Rechtsbeugung innerhalb ihres Anwendungsbereichs im Falle der Nichtverwirklichung eine Sperrwirkung für alle anderen verwirklichten Delikte. Sofern dem Richter oder sonstigen Amtsträger bei der Entscheidung oder Leitung der Rechtssache kein darüberhinausgehender gravierender Rechtsverstoß vorzuwerfen ist, ist sein tatbestandliches Handeln als Diensthandeln gerechtfertigt.[32] Rechtsdogmatisch realisierbar sei diese in der Sache zutreffende Sperrwirkung lediglich über den Rechtfertigungsgrund des amtlichen Handelns. Ungeachtet der dogmatischen Begründung kommt nach allgemeiner Ansicht die Sperrwirkung nicht nur dem Richter, sondern auch dem Staatsanwalt zugute.[33] Hiernach wäre das Verhalten des S gerechtfertigt.
bb) Konkurrenzlösung
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Die h.M. erkennt grundsätzlich die Sperrwirkung der Rechtsbeugung an. Sie begründet dies mit denselben grundlegenden Argumenten, wie die Ansicht vom Rechtfertigungsgrund des amtlichen Handelns. So diene die Rechtsbeugung nicht nur dem Schutz der Rechtspflege vor Angriffen von innen, sondern umgekehrt auch dem Schutz ihrer Unabhängigkeit, sodass § 339 StGB gewissermaßen für die Strafbarkeit von Handlungen bei der Befassung mit einer Rechtssache eine abschließende Regelung treffe.[34] Die Sperrwirkung des § 339 StGB stelle jedoch einen Fall der Spezialität dar, der alle bei der rechtlichen Entscheidung in Idealkonkurrenz verwirklichten Delikte ausschieße.[35] Eine Rechtfertigung wäre hiernach ausgeschlossen.
cc) A.A Straflosigkeit über die allgemeinen Grundsätze
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Eine weitere Ansicht lehnt die Existenz einer Sperrwirkung der Rechtsbeugung ab. Weder für die Konkurrenzlösung der h.M. noch für einen gesonderten Rechtfertigungsgrund bestünde eine normative Grundlage. Der nicht nach der Rechtsbeugung strafbare Richter oder Amtsträger bleibe nach den anderen Delikten vielmehr durch entsprechende Anwendung der allgemeinen Grundsätze zur Strafbarkeit straflos, so etwa analog § 16 Abs. 1 S. 1 StGB.[36] Auch nach dieser Ansicht wäre eine Rechtfertigung des S ausgeschlossen.
dd) Stellungnahme
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Für die Frage der Rechtfertigung des Verhaltens des S kommen die Ansichten zu unterschiedlichen Ergebnissen, sodass der Streit zu entscheiden ist. Der herrschenden