Gesellschaftsrecht II. Recht der Kapitalgesellschaften. Ulrich Wackerbarth
Maßgebend für die Bewertung sind Verhältnisse am Abschlussstichtag.
b) Einzelbewertung, § 252 Abs. 1 Nr. 3 HGB
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Der Grundsatz der Einzelbewertung verlangt, jeden Vermögensgegenstand gesondert zu bewerten. Er verbietet etwa die Verrechnung von Wertminderungen eines Vermögensgegenstandes durch Wertsteigerung eines anderen (Einige Ausnahmen in §§ 256 S. 2, 240 Abs. 3 HGB (Festbewertung) und in §§ 256 S. 2, 240 Abs. 4 HGB (Gruppenbewertung)).
c) Anschaffungswertprinzip, § 253 Abs. 1 S. 1 HGB
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Anschaffungs- oder Herstellungskosten sind ausnahmslos Höchstwert eines Vermögensgegenstandes. Das ist extrem problematisch bei Immobilienvermögen, weil es zur Verschleierung der wahren Vermögenslage der Gesellschaft beiträgt und zwar entgegen § 264 Abs. 2 S. 1 HGB.
d) Planmäßigkeit der Abschreibung, § 253 Abs. 3 S. 1, 2 HGB
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Gilt für Bemessung der Abschreibung für Vermögensgegenstände des Anlagevermögens, deren Nutzung zeitlich begrenzt ist.
3. Aktivierungs-/Passivierungswahlrechte/Bewertungswahlrechte
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Durch das BilMoG wurden die handelsrechtlichen Aktivierungs- und Passivierungswahlrechte stark eingeschränkt.[8] So ist ein derivativ erworbener Geschäfts- oder Firmenwert nun nach Maßgabe des § 246 Abs. 1 S. 4 HGB zu aktivieren (früher § 255 Abs. 4 HGB a.F.), das Passivierungswahlrecht für Aufwandsrückstellungen in § 249 Abs. 2 HGB a.F. wurde abgeschafft. Gem. § 248 Abs. 2 HGB besteht zwar noch ein Wahlrecht für immaterielle Vermögensgegenstände des Anlagevermögens, jedoch gibt es nur wenige klare Beispiele dafür.
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Auch wurden zahlreiche Bewertungswahlrechte durch das BilMoG wieder abgeschafft. Nach wie vor bestehen aber erhebliche Möglichkeiten der Bilanzierenden, über die Bildung von Bewertungseinheiten gem. § 254 HGB[9] oder die fortbestehenden Wahlrechte (z.B. § 253 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 S. 4 HGB) Bilanzpolitik zu betreiben.
4. Folgen
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Aus allen diesen Regeln entstehen zwei Hauptprobleme: Erstens lassen sie insgesamt auf der einen Seite die Bildung sogenannter stiller Reserven zu, d.h. die Gesellschaft kann tatsächlich ein größeres Vermögen haben als in der Bilanz angegeben wird. Das Vorsichtsprinzip, besonders das Anschaffungswertprinzip, sowie bestimmte Bilanzierungs-Wahlrechte können zur Bildung solcher stiller Reserven führen. Da sich die Gesellschaft auf diese Weise „arm rechnet“, könnte man zunächst meinen, diese Prinzipien seien gut für den Schutz der Gläubiger, da die wahre Vermögenslage stets besser ist als die Buchwerte. Das trifft jedoch entgegen dem Verständnis der herrschenden Auffassung[10] nicht zu. Auch das Vorsichtsprinzip ist letztlich Gift für den Gläubigerschutz(!), vgl. Rn. 282.
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Zweitens ermöglicht das Fortführungsprinzip auf der anderen Seite eine Überbewertung, d.h. die Gesellschaft hat ein geringeres Vermögen als sie in der Bilanz darstellen darf. Dass diese zweite Folge mit dem Ziel des Gläubigerschutzes unvereinbar ist, dürfte unmittelbar einleuchten, vgl. noch Rn. 281.
5. Ein einheitliches Prinzip?
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Welche Funktion hat ein Bilanzrecht, das die Bilanzierenden zu sehr wenig zwingt und ihnen, die durch das Bilanzrecht doch zu einer wahren Darstellung ihrer Vermögensverhältnisse verpflichtet werden sollen, Wahlrechte bei der Darstellung gibt (wenn auch stets betont wird, dass diese Wahlrechte nur sehr eingeschränkt bestünden)? Im Ausland ist das anders. Offenbar überfordert die Prinzipienvielfalt den deutschen Bilanzierenden. Besser wäre es vielleicht, statt vieler Prinzipien, die gegeneinander ausgespielt werden können, nur ein einziges Prinzip der Bewertung zugrundezulegen. Im Rahmen der europäischen Harmonisierung des Bilanzrechts ist der Versuch zu einer Unterstellung unter ein einheitliches Prinzip unternommen worden, nämlich die Pflicht der Bilanzierenden, ein der tatsächlichen Vermögens-, Finanz- und Ertragslage entsprechendes Bild zu vermitteln, § 264 Abs. 2 S. 1 HGB, sog. true and fair view.
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Der EuGH hat bereits in der Tomberger-Entscheidung[11] allgemein ausgeführt, dass das Prinzip des true and fair view das primäre Ziel der dem deutschen Recht zugrundeliegenden Bilanz-Richtlinie ist. In der Entscheidung v. 14.9.1999[12] hat er das bestätigt und klargemacht, dass die nationalen Rechtssysteme den Unternehmen nicht beliebig hohe Pauschalrückstellungen für noch nicht realisierte Verluste erlauben dürfen. Das richtet sich eindeutig gegen das deutsche Verständnis der Bewertungswahlrechte der Bilanzierenden, an der sich auch durch die Einführung des „true and fair view“-Prinzips in das HGB bisher rechtspraktisch nur wenig geändert zu haben scheint.
Teil 3 Gläubigerschutz › § 6 Bilanz- und Insolvenzrecht › VI. Wie wird die Überschuldung tatsächlich festgestellt?
1. Der modifiziert zweistufige Überschuldungsbegriff nach altem Recht
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Vor Inkrafttreten der InsO musste nach h.M. in Schrifttum und Rechtsprechung der Geschäftsleiter bei einer bloßen handelsbilanziellen Überschuldung keineswegs unbedingt Insolvenzantrag stellen. Nach dem sog. modifiziert zweistufigen Überschuldungsbegriff bestand die Überschuldungsprüfung vielmehr aus zwei Teilen.
Zum einen war die Aufstellung eines Überschuldungsstatus erforderlich, mit der die sog. rechnerische Überschuldung der Gesellschaft festgestellt wurde. Im Rahmen einer solchen Überschuldungsbilanz waren, soweit bestand weitgehend Einigkeit, die tatsächlichen Zeitwerte zu ermitteln, die handelsrechtlichen Bewertungsvorschriften spielten keine Rolle mehr. Die Aktiva waren nach ihren „wahren“, d.h. realisierbaren Verkehrswerten unter Auflösung der stillen Reserven anzusetzen und bei den Passiva waren sämtliche echte Verbindlichkeiten einzusetzen. Unbewegliches Vermögen war mit dem Verkehrswert zu berücksichtigen. Im Umlaufvermögen mussten die Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe sowie die Halb- und Fertigprodukte unter Liquidationsgesichtspunkten mit ihrem Marktwert angesetzt werden. Forderungen aus Lieferungen und Leistungen waren nach dem handelsbilanzrechtlichen Vorsichtsprinzip zu bewerten. Bei den Passiva mussten sämtliche Verbindlichkeiten, auch solche, die noch nicht fällig oder gestundet waren, eingesetzt werden. Rückstellungen waren dann zu passivieren, wenn mit einer Inanspruchnahme ernstlich zu rechnen ist.[13]
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Zum zweiten kam es für die Überschuldung aber entscheidend auf die sog. Fortbestehensprognose an.[14] Zur Begründung wird insbesondere das Folgende angeführt: Die rechnerische Überschuldung entspreche nicht den „wirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Erfordernissen“. Überschuldung sei nicht nur ein rechnerischer Begriff, sondern ihre Feststellung erfordere darüber hinaus die Aufstellung