Gesellschaftsrecht II. Recht der Kapitalgesellschaften. Ulrich Wackerbarth
entspricht jedoch nicht der gesetzlichen Absicht. Die Pflicht zur Selbstinformation kann vielmehr nur eine Pflicht zur Selbstkontrolle im Interesse der Gläubiger und (nur) Ausdruck eines präventiven Gläubigerschutzes sein. Denn es ist nicht erkennbar, weshalb der Kaufmann eines gesetzlichen (!) Schutzes vor sich selbst bedarf. Dagegen bedürfen die Gläubiger dieses Schutzes aus den auch heute noch zutreffenden Erwägungen, die zur Einführung der Buchführungspflicht im 18. und 19. Jahrhundert führten.
2. Aussagekraft der Handelsbilanz?
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Nach dem Gesagten scheint man der Bilanz heute eher so etwas wie „Zahlungsfähigkeit in Zukunft“ oder Ertragskraft entnehmen zu können. Die Bilanz dient dem Gläubigerschutz durch Selbstkontrolle dadurch, dass sie den Betrag bezeichnet, der höchstens aus dem Geschäfts- in das Privatvermögen überführt werden kann, ohne die Substanz des Unternehmens anzutasten.[6] Diese auf die Funktionsfähigkeit des Unternehmens bezogene Betrachtung stellt einen ganz erheblichen, ja den entscheidenden Unterschied zu einer rein vermögensorientierten Betrachtungsweise dar. Es wird versucht, durch die Bilanz herauszufinden, wie gut das Unternehmen funktioniert. Man meint, das Unternehmen von den Unternehmern trennen zu können und es durch Bewertungsgrundsätze verobjektiviert messen zu können.
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Dabei wird vergessen, dass die Betriebsmittel erst durch die unternehmerische Idee und die Fähigkeiten des Unternehmers ihren wahren Wert erhalten und eine abstrakte Bewertung von Vermögensgegenständen unter der Fortführungshypothese zugleich eine Bewertung dieser Personen bedeuten müsste. Das ist aber erstens schlicht nicht möglich und zweitens nicht das Konzept des Gesetzgebers in den §§ 30, 64 GmbHG (!), das von einer rein finanziellen Betrachtungsweise ausgeht. Der Versuch zu einer objektiven Bewertung des Unternehmens ist zum Scheitern verurteilt, denn der „wahre“ Wert des Unternehmens und sein Funktionieren kann nicht von denjenigen getrennt werden, die die unternehmerischen Entscheidungen treffen und durch ihre Leistungen den Unternehmenswert erst schaffen.
3. Maßgeblichkeit der Gläubigerperspektive!
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Ob der oder die Gesellschafter durch die Entnahme von Kapital in die „Substanz“ oder die Funktionsfähigkeit des Unternehmens eingreifen oder nicht, geht die Gläubiger nach § 30 Abs. 1 GmbHG nichts an, weil § 30 GmbHG nicht auf die Ertragskraft des Unternehmens, sondern allein auf die finanzielle Lage abstellt. Die Gesellschafter dürfen nach dem Gesetz die Substanz des Unternehmens angreifen, solange sie damit nicht eine Unterbilanz oder gar die Überschuldung der Gesellschaft herbeiführen. Das ist ihre unternehmerische Freiheit. Wie die Gesellschafter ausrechnen, was sie aus dem Gesellschaftsvermögen in ihr Privatvermögen einverleiben dürfen, ohne die Funktionsfähigkeit des Unternehmens zu beeinträchtigen, interessiert die Gläubiger nicht. Denn ihre Befriedigungsaussichten könnten bei einer solchen „Kapitalerhaltung“ stets dadurch beeinträchtigt werden, dass die Gesellschafter das Unternehmen durch Liquidation schließen und dadurch die Funktionsfähigkeit des Unternehmens vollständig beseitigen.
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Die Gläubiger interessiert demgegenüber, ob durch die Entnahme die Gesellschafter die Kasse der Gesellschaft soweit vermindern, dass die Befriedigungsaussichten der Gläubiger finanziell gefährdet sind. Dementsprechend ist weiter festzuhalten: Wenn das Kapital durch Verluste aufgezehrt ist, dann muss die Geschäftsleitung den Insolvenzantrag stellen, es sei denn die Gesellschafter schießen Kapital nach. Vor allem für die korrekte Ermittlung der vollständigen Aufzehr des Kapitals besteht ein öffentliches Interesse an der Rechnungslegung der Gesellschaften mit Haftungsbeschränkung, so dass Kapitalerhaltung, Insolvenzantragspflicht und Buchführung miteinander korrespondieren.
Teil 3 Gläubigerschutz › § 6 Bilanz- und Insolvenzrecht › V. Materielle Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung
a) Fortführungsprinzip (going concern)
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Dieses Prinzip ist für die Bewertung formuliert in § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB, es gilt aber auch für die Frage des Ansatzes von Vermögensgegenständen und Schulden. Solange nicht die Aufgabe des Unternehmens beabsichtigt oder zwingend geboten ist, sind Vermögensgegenstände mit ihren Anschaffungs- oder Herstellungskosten anzusetzen, ggf. vermindert um Abschreibungen, nicht jedoch mit ihren tatsächlich erzielbaren Zeitwerten. Ferner sind nicht die Kosten einer Aufgabe der Unternehmenstätigkeit einzurechnen, es ist z.B. etwa keine Passivierung von möglicherweise bei Auflösung des Unternehmens entstehenden Sozialplanverbindlichkeiten vorzunehmen. Eines der Hauptprobleme, die das Fortführungsprinzip verursacht: Wenn es der Gesellschaft schlecht geht, dann ermöglicht das Going-concern-Prinzip eine Überbewertung des Vermögens, so wie in den letzten beiden Jahren der Kurve dargestellt.
b) Vorsichtsprinzip
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Das Vorsichtsprinzip ist in § 252 Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 HGB festgehalten, auch dieses gilt ebenso für den Ansatz von Vermögensgegenständen und Schulden. Wie sein Name andeutet, verlangt es zurückhaltende Bewertung des Vermögens unter Berücksichtigung von Risiken und Verlusten. Es kommt im Realisationsprinzip und im Imparitätsprinzip zum Ausdruck, ferner in Aktivierungsverboten für unsicher zu bewertende Positionen (§ 248 Abs. 1, 2 HGB), außerdem im Niederstwertprinzip (§ 253 Abs. 4 HGB), weiterhin in dem bei der Aktivierung eigener Anteile vorgeschriebenen Ansatz einer Rücklage nach § 272 Abs. 4 HGB. Das Vorsichtsprinzip rechtfertigt aber nicht die beliebige Unterbewertung von Aktivposten und die beliebige Überbewertung von Passivposten.[7]
Das Vorsichtsprinzip ermöglicht die dargestellte Kurvenabweichung von Handelsbilanz und Liquidationsbilanz in den ersten beiden Jahren der Kurve.
c) Realisationsprinzip
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Das Realisationsprinzip formuliert § 252 Abs. 1 Nr. 4 Hs. 2 HGB, auch dieses gilt ferner für den Ansatz von Vermögensgegenständen. Erträge sind auszuweisen, sobald die Entstehung der ihnen zugrunde liegenden Forderung mit Sicherheit zu erwarten und ihre Höhe feststellbar ist. Bei Verkäufen ist das der Fall, wenn der Lieferant seine Leistung in der Weise erbracht hat, dass die Gefahr i.S.d. §§ 446 f. BGB auf den Empfänger übergegangen ist. Aufwendungen werden nach dem Realisationsprinzip teilweise in dem Geschäftsjahr ausgewiesen, in dem die Erträge entstehen, die mit den Aufwendungen „alimentiert“ worden sind. Teilweise bestimmt aber auch das Imparitätsprinzip den Ausweis von Aufwendungen.
d) Imparitätsprinzip
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Das Imparitätsprinzip ist deutliches Zeichen der (scheinbaren, ehemaligen, siehe Rn. 243 ff.) Gläubigerorientierung des dt. Bilanzrechts. Für die Bewertung ist es formuliert in § 252 Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 HGB, es gilt ferner für den Ansatz von Schulden. Verluste sind – im Gegensatz zu Gewinnen (daher Imparitätsprinzip) – schon vor ihrer Realisierung auszuweisen. Hauptanwendungsfall ist die Rückstellung für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften nach § 249 Abs. 1 S. 1 HGB.
a)