Klausurenkurs im Europäischen und Internationalen Wirtschaftsrecht. Christoph Herrmann
das Selbstverständnis des Unionsrechts dazu führen, dass es nicht als Teil des Völkerrechts anzusehen ist. So nimmt das primäre Unionsrecht für sich in Anspruch, normhierarchisch über dem Völkerrecht zu stehen, was sich u.a. aus dem Gutachtenverfahren gemäß Art. 218 Abs. 11 S. 1 AEUV ergibt.[37] Zudem steht das Völkerrecht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rang unterhalb des Primärrechts und oberhalb des Sekundärrechts und ist „integrierender Bestandteil“[38] des Unionsrechts. Der Gerichtshof stellte in der Rechtssache Costa/E.N.E.L. fest, dass die Unionsverträge im Unterschied zu gewöhnlichen internationalen Verträgen eine eigene Rechtsordnung geschaffen haben, die in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist.[39] Das Unionsrecht ist seinem Selbstverständnis nach damit – vor allem auch im Verhältnis zu den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen – eine „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“[40], eine Rechtsordnung sui generis. Angesichts dessen betrachten etwa Investitionsschiedsgerichte[41] das Unionsrecht nicht als Völkerrecht, sondern als Faktum (bzw. als Recht des beklagten Staates). Dies entspricht der Behandlung innerstaatlichen Rechts in internationalrechtlichen Kontexten.[42]
Damit ist das Unionsrecht im vorliegend maßgeblichen Verhältnis zu den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nicht als Teil des Völkerrechts anzusehen und nicht für allgemein völkerrechtliche Bewertungen zugänglich.[43] (a.A. vertretbar)
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Hinweis:
Sollten Klausurbearbeitende die gegenteilige Ansicht vertreten, wäre zu argumentieren, dass die Eigenheiten der unionalen Rechtsordnung, nämlich der Anwendungsvorrang sowie die unmittelbare Anwendbarkeit des unionalen Primärrechts, das Verhältnis zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht betreffen und durch die mitgliedstaatlichen Verfassungen vorgegeben sind. Der völkerrechtliche Charakter des Unionsrechts bleibt davon unberührt. Damit stellt das Unionsrecht ungeachtet seines Selbstverständnisses grundsätzlich einen Teil des Völkerrechts dar.
(3) Zwischenergebnis
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Die Unionsverträge sind im Ergebnis nicht als völkerrechtliche Verträge i.S.v. Art. 2 Abs. 1 lit. a WVK zu qualifizieren, sodass Art. 59 Abs. 1 WVK grundsätzlich nicht anwendbar ist.
Hilfsgutachten bezüglich der Prüfung von Art. 59 Abs. 1 WVK und Art. 30 Abs. 3 WVK
bb) Bezugnahme beider Verträge auf denselben Gegenstand i.S.v. Art. 59 Abs. 1 WVK
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Gemäß Art. 59 Abs. 1 WVK ist wesentliche Voraussetzung für eine Beendigung eines völkerrechtlichen Vertrages, dass alle Vertragsparteien später einen sich auf denselben Gegenstand beziehenden Vertrag schließen. Damit ist fraglich, ob die Unionsverträge denselben Gegenstand wie die von den Mitgliedstaaten geschlossenen BITs regeln.[44]
BITs haben im Wesentlichen die Regelung des Schutzes von Investitionen durch Investoren aus dem einen Vertragsstaat auf dem Gebiet des anderen Vertragsstaats zum Gegenstand, etwa durch Klauseln zur Meistbegünstigung, zur Inländergleichbehandlung, zu Full Protection and Security (FPS) und zu Fair and Equitable Treatment (FET), zur Entschädigung im Enteignungsfall und zur Streitbeilegung durch eine Investor-Staat-Schiedsgerichtsbarkeit.[45]
Zwar lässt sich argumentieren, dass das Unionsrecht durch die binnenmarktrechtlichen Vorschriften ein insgesamt mindestens vergleichbares Investitionsschutzniveau aufweist, ohne allerdings die gleichen Regulierungsinstrumente wie ein BIT zu beinhalten. Der Investitionsschutz wird im Binnenmarkt vor allem durch die Grundfreiheiten, insbesondere die Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfreiheit erreicht, die den freien Marktzugang für EU-ausländische Investoren durch ein umfassendes Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot sowie durch die EU-Grundrechte (wenn auch einschränkbar) schützen. Allerdings sehen beispielsweise die Art. 64, 65 AEUV ausdrücklich Beschränkungsmöglichkeiten der Kapitalverkehrsfreiheit vor, aufgrund derer der Gerichtshof im Zusammenhang mit extra-EU BITs Inkongruenzen zwischen Unionsrecht und den jeweiligen BITs angenommen hat.[46] Auch mit Blick auf die Entschädigungspflicht bei Enteignungen weicht die Unionsrechtsordnung vom Regelungsgegenstand von BITs ab. Gemäß Art. 345 AEUV lässt das Unionsrecht die Eigentumsordnung der Mitgliedstaaten unberührt. Eine Entschädigungsverpflichtung der Mitgliedstaaten folgt damit – im Gegensatz zu BITs – nicht unmittelbar aus dem Unionsrecht.[47]
Des Weiteren beinhaltet das Unionsrecht für einen Investor keinen vergleichbaren individuellen Rechtsschutz gegen das Gastland wie BITs, die regelmäßig entsprechende Schiedsklauseln zur Errichtung von privaten Schiedsgerichten enthalten. Vielmehr hätte ein EU-ausländischer Investor zunächst den nationalen Rechtsweg des Aufnahmemitgliedstaats zu beschreiten, in dessen letzter Instanz der Gerichtshof im Rahmen der Vorlagepflicht einzubeziehen wäre.
Damit beziehen sich BITs und das Unionsrecht nicht auf denselben Gegenstand i.S.v. Art. 59 WVK.
cc) Zwischenergebnis
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Die intra-EU BITs von A sind nicht gemäß Art. 59 Abs. 1 WVK beendet worden.
b) Nichtanwendbarkeit der Bestimmungen der intra-EU BITs gemäß Art. 30 WVK
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Gemäß Art. 30 Abs. 3 WVK findet der frühere Vertrag nur insoweit Anwendung, als er mit dem späteren Vertrag vereinbar ist, sofern alle Vertragsparteien des früheren zugleich Vertragsparteien des späteren sind und der frühere Vertrag nicht beendet ist.[48] Weitere Voraussetzung ist gemäß Art. 30 Abs. 1 WVK – ähnlich wie im Falle des Art. 59 Abs. 1 WVK –, dass die aufeinanderfolgenden Verträge denselben Gegenstand haben.
aa) Differenzierte Betrachtung der Regelung desselben Gegenstands
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In Anbetracht der obigen Ausführungen im Rahmen des Art. 59 Abs. 1 WVK könnte auch mit Blick auf Art. 30 Abs. 1, 3 WVK die Annahme der Regelung desselben Gegenstands durch BITs und die Unionsverträge zu verneinen sein. Möglicherweise kommt der Begrifflichkeit „desselben Gegenstands“ in den beiden Normen allerdings unterschiedliche Bedeutung bzw. Reichweite zu.
Hierfür spricht der von Art. 30 Abs. 3 WVK verfolgte differenzierende Ansatz, der sich lediglich auf die Nichtanwendbarkeit einzelner Bestimmungen des früheren Vertrags bezieht, nicht aber auf die Beendigung des früheren Vertrages in seiner Gesamtheit.[49] Daher bedarf es im Rahmen des Art. 30 Abs. 3 WVK einer differenzierten Bewertung, inwiefern der Gegenstand des früheren Vertrages in einzelnen Regelungen vergleichbar und unvereinbar mit dem Regelungsgehalt des späteren Vertrages ist. Im Ergebnis ist der Begriff „desselben Gegenstands“ i.S.v. Art. 30 Abs. 1 WVK damit weiter auszulegen.
So ist insbesondere mit Blick auf die in BITs regelmäßig vorgesehenen Schiedsklauseln vertretbar, dass diese denselben Regelungsgegenstand haben wie die in den Unionsverträgen festgelegte Gerichtsbarkeit durch den GHEU gemäß Art. 19 Abs. 3 EUV, nämlich die Auslegung von entscheidungserheblichen Rechtsvorschriften, die in Bezug auf die unionsrechtliche Zulässigkeit von in intra-EU BITs vorgesehene Schiedsgerichten auch die Auslegung von Unionsrecht betreffen. Damit können intra-EU BITs und die Unionsverträge in einzelnen Bestimmungen durchaus denselben Regelungsgegenstand betreffen.
bb) Rechtsfolge des Art. 30 Abs. 3 WVK
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Unabhängig von der Vereinbarkeit der intra-EU BITs von A mit den Unionsverträgen ist jedoch zu beachten, dass mögliche Rechtsfolge des Art. 30 Abs. 3 WVK lediglich die Nicht-Anwendbarkeit einzelner Bestimmung des früheren Vertrages ist. Folglich wären einzelne BIT-Vorschriften lediglich während der Mitgliedschaft von A in der Union nicht anwendbar und würden nach dem Austritt sogleich wieder zur Anwendung kommen können.
Hinweis:
Die