Klausurenkurs im Europäischen und Internationalen Wirtschaftsrecht. Christoph Herrmann
in einem Integrationsabkommen ausgeschlossen sein.
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Gemäß Art. XXIV:7 GATT bzw. Art. V:7 GATS besteht zudem eine Notifizierungsplicht für regionale Integrationsabkommen. Durch den Transparenzmechanismus für Regionale Handelsabkommen von 2006 wurde diese Notifizierungspflicht im Hinblick auf den maßgeblichen Zeitpunkt präzisiert. Danach sollen die WTO-Mitglieder im Rahmen einer frühzeitigen Bekanntmachung möglichst bereits die Aufnahme von Verhandlungen anzeigen, die auf den Abschluss eines Abkommens gerichtet sind. Die eigentliche Notifizierung soll „so früh wie möglich“, d.h. im Regelfall unmittelbar nach der völkerrechtlichen Ratifizierung und in jedem Fall vor der eigentlichen Anwendung des Abkommens erfolgen.[29] Der Transparenzmechanismus stellt allerdings allein ein zusätzliches verfahrensrechtliches Element dar, durch das die Transparenz der vielfältigen Abkommensbeteiligungen der WTO-Mitglieder und deren jeweiliger Inhalte erhöht werden soll. Materiell-rechtlich hat der Mechanismus keine Relevanz.
Frage 5: Wie wirkt sich der Austritt aus der Union auf bilaterale Investitionsschutzverträge von A aus, die mit anderen Mitgliedstaaten der Union oder mit Staaten außerhalb der Union geschlossen worden sind?
I. Rechtliche Auswirkungen des EU-Austritts auf intra-EU BITs von A
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Die sogenannten intra-EU BITs resultieren zumeist aus dem erst nachträglich, d.h. nach dem BIT-Vertragsschluss erfolgten Beitritt einer oder beider Vertragsstaaten zur EU. Intra-EU BITs stammen daher aus der Zeit vor der jeweiligen EU-Mitgliedschaft einer oder beider Vertragspartei(en).
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Exkurs:
Die Problematik von intra-EU BITs stellt sich insbesondere infolge der EU-Osterweiterung in den Jahren 2004 und 2007. Viele westeuropäische EU-Mitgliedstaaten hatten BITs etwa mit der Slowakei, Tschechien oder Rumänien abgeschlossen, sodass sich die ehemals extra-EU BITs zu intra-EU BITs wandelten. Die prominentesten Fälle in diesem Bereich sind Micula sowie Achmea, denen investitionsschutzrechtliche Sachverhalte zugrunde liegen. So besteht die Kernproblematik in Micula im Wesentlichen in dem rechtlichen Dilemma, dass Rumänien schwedischen Investoren in der Zeit vor dem EU-Beitritt nicht unerhebliche Investitionsanreize gewährt und sich im Rahmen eines BIT zu einem bestimmten Investitionsschutzniveau u.a. zu Fair and Equitable Treatment verpflichtet hatte, die Investitionsanreize infolge des EU-Beitritts jedoch aus beihilferechtlichen Gründen (auf Verlangen der Europäischen Kommission) zurücknahm. Die Europäische Kommission ist im Zusammenhang mit dem daraus entstandenen Schiedsstreit insbesondere der Ansicht, dass die Vollstreckung eines etwaigen Schiedsspruchs zugunsten der Investoren in Form von Schadensersatzzahlungen als unionsrechtlich unzulässige Beihilfe i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV zu bewerten sei. Dagegen hat der Gerichtshof mit der Achmea-Entscheidung im Jahre 2018 weitgehend Klarheit über die unionsrechtliche Unzulässigkeit von intra-EU BIT-Schiedsgerichten geschaffen (siehe dazu Fall 10, Rn. 621 ff.).[30]
Mit Blick auf den EU-Austritt von A ist nunmehr fraglich, ob die BITs bereits aufgrund ihres Charakters als intra-EU-Abkommen unanwendbar oder automatisch beendet worden sind. Vor dem Hintergrund des grundsätzlich völkerrechtlichen Charakters der intra-EU-BITs erfolgt diese Bewertung sowohl in völker- als auch unionsrechtlicher Hinsicht.
1. Völkerrechtliche Bewertung der intra-EU BITs
a) Beendigung der intra-EU BITs gemäß Art. 59 Abs. 1 WVK
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Möglicherweise sind die intra-EU BITs durch die EU-Mitgliedschaft von A bzw. den Vertrag von Lissabon automatisch gemäß Art. 59 Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) beendet worden.[31] Gemäß Art. 59 Abs. 1 WVK gilt ein Vertrag als beendet, sofern alle Vertragsparteien später einen sich auf denselben Gegenstand beziehenden Vertrag schließen. Darüber hinaus bedarf es eines ausdrücklichen Willens der Vertragsparteien zur Beendigung des früheren Vertrags (lit. a) oder der zwingenden Unvereinbarkeit des früheren und des späteren Vertrages, sodass die gleichzeitige Anwendung beider unmöglich ist (lit. b).
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Hinweis:
Sollte A nicht Vertragspartei der WVK sein, ist A dennoch an deren Inhalt gebunden, soweit die WVK lediglich die Kodifizierung von Völkergewohnheitsrecht darstellt. Völkergewohnheitsrecht ist gemäß Art. 38 Abs. 1 lit. b IGH-Statut als Quelle des Völkerrechts für die Völkerrechtssubjekte bindend und entsteht durch eine gemeinsame Rechtsüberzeugung (opinio iuris) sowie die allgemeine Übung.[32]
aa) Anwendbarkeit der WVK auf die Unionsverträge
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Die WVK ist allerdings nur auf die Unionsverträge anwendbar, sofern letztere überhaupt Verträge i.S. der WVK sind.[33] Gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. a WVK bedeutet „Vertrag“ i.S. der WVK eine in Schriftform geschlossene und vom Völkerrecht bestimmte internationale Übereinkunft zwischen Staaten.
Zwar stellen die Unionsverträge ihrer Genese nach völkerrechtliche Verträge dar, allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Rechtsqualität einer Rechtsordnung von der Qualität des Gründungsaktes löst.[34]
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Hinweis:
Diese Annahme belegt das Beispiel der Gründung eines Bundesstaates, die zunächst durch einen völkerrechtlichen Vertrag erfolgen kann. Die Rechtsnatur des Gründungsvertrages bestimmt jedoch nicht zwingend die Rechtsnatur des ins Leben gerufenen Gebildes, das in Bezug auf die Europäische Union bisherige Formen der internationalen Zusammenarbeit hinter sich lassen und eine Qualität eigener Art erreichen sollte.[35]
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Unter Berücksichtigung dieser Annahme ist von einer Doppelnatur der Unionsverträge auszugehen.[36] Danach sind die Unionsverträge als Teil des Völkerrechts zu verstehen, soweit das „Außenverhältnis“ der vertragsschließenden Mitgliedstaaten betroffen ist. Im „Binnenverhältnis“, d.h. insbesondere im Verhältnis des Unionsrecht zum mitgliedstaatlichen Rechts, ist dagegen vielmehr auf das unionsrechtliche Selbstverständnis abzustellen, nach dem das Unionsrecht nicht als Teil des Völkerrechts zu bewerten ist.
(1) Maßgeblichkeit des „Binnenverhältnisses“ in investitionsschutzrechtlichen intra-EU Konstellationen
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Fraglich ist damit, ob in Bezug auf die Beziehung zwischen einem mitgliedstaatlichen intra-EU-Investitionsschutzabkommen und dem Unionsrecht das „Binnenverhältnis“ oder das „Außenverhältnis“ betroffen ist.
Zwar stellen die investitionsschutzrechtlichen Abkommen der Mitgliedstaaten unstrittig völkerrechtliche Verträge dar, die die jeweiligen EU-Mitgliedstaaten im Rahmen der ihnen in der Vergangenheit zustehenden umfassenden Kompetenz abgeschlossen haben; allerdings werden diese mitgliedstaatlichen „Investitionsschutzbeziehungen“ in intra-EU-Konstellationen durch den unionalen Binnenmarkt überlagert, in dessen Rahmen grenzüberschreitende Investitionen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts (insbesondere der Grundfreiheiten) fallen, das durch seine unmittelbare Anwendbarkeit und den Anwendungsvorrang gekennzeichnet ist. Damit ist der Bereich des Investitionsschutzes innerhalb des Binnenmarktes grundsätzlich im Verhältnis des Unionsrechts zum mitgliedstaatlichen Recht zu bewerten. Daraus folgt, dass auch über die Zulässigkeit von investitionsschutzrechtlichen intra-EU-Abkommen in diesem „Binnenverhältnis“ zu entscheiden ist.
(2) Darlegung der unionsrechtlichen Rechtsnatur im „Binnenverhältnis“