BGB-Erbrecht. Lutz Michalski
So kann z.B. bei der testamentarischen Anordnung einer Vor- und Nacherbschaft in der Bezeichnung des Vorerben als „Alleinerben“ die Andeutung eines Willens gesehen werden, den Vorerben von den Verfügungsbeschränkungen der §§ 2113 ff. (→ Rn. 759 ff.) zu befreien.[22]
4. Maßgeblicher Zeitpunkt
333
Maßgebend für die Auslegung ist nur der bei der Errichtung des Testaments vorhanden gewesene Wille des Erblassers.[23] Später eintretende Umstände können nur Bedeutung erlangen, soweit sie Rückschlüsse auf den Willen des Erblassers im Zeitpunkt der Testamentserrichtung zulassen.[24] Andernfalls würden die Formanforderungen für Testamente bzw. Widerrufe umgangen werden.
5. Berücksichtigungsfähige Umstände
334
Auszugehen ist vom Wortlaut der Erklärung.[25] Man darf sich jedoch nicht auf eine Analyse des Wortlauts beschränken, muss diesen gleichsam „hinterfragen“, um festzustellen, was der Erblasser tatsächlich gewollt hat.[26] Zur Ermittlung des Erblasserwillens sind auch alle zugänglichen Umständen außerhalb der Testamentsurkunde auszuwerten, die zur Ermittlung des Erblasserwillens beitragen können.[27]
Zu berücksichtigen ist der Textzusammenhang, der sich sowohl aus dem Sinnzusammenhang der einzelnen Sätze als auch aus seiner (grafischen) Anordnung ergeben kann.[28] Die Testamentsform spielt insoweit eine Rolle, als beim eigenhändigen Testament die Begriffe in der Regel alltagssprachlich, beim öffentlichen hingegen fachsprachlich gebraucht werden.[29]
Herangezogen werden können auch andere frühere Erklärungen des Erblassers.[30] Wenn mehrere Testament vorliegen, die sich nach dem Willen des Erblassers ergänzen sollen, so bilden die Testamente in ihrer Gesamtheit die Erklärung des Erblasserwillens; zur Ermittlung des Inhalts jeder einzelnen Verfügung sind daher sämtliche Testamente heranzuziehen.[31] Unproblematisch ist die Heranziehung früherer Erklärungen auch, wenn durch die spätere Verfügung nur eine frühere ergänzt oder präzisiert wird.[32] Formnichtige oder widerrufene frühere Verfügungen sind nur zu berücksichtigen, wenn sie den in der späteren Verfügung angedeuteten Willen verdeutlichen[33]; nicht jedoch, um die spätere Verfügung durch eine weitere Anordnung zu ergänzen[34]. Zur Auslegung herangezogen werden können ferner grundsätzlich auch bloße Entwürfe; hier ist allerdings stets zu berücksichtigen, dass Textunterschiede auch ein Hinweis auf eine Willensänderung sein können.[35]
6. Ergänzende Auslegung
335
Im Zeitraum zwischen der Errichtung des Testaments und dem Erbfall ergeben sich häufig Veränderungen, die der Erblasser nicht vorausgesehen hat. Konsequenz ist, dass im Zeitpunkt des Erbfalls keine Regelung vorhanden ist, die diesen veränderten Umständen Rechnung trägt. Zur Schließung solcher Lücken im Testament dient die sog. ergänzende Auslegung.[36] Ein vorschneller Rückgriff auf das gesetzliche Erbrecht würde in diesen Fällen der grundsätzlichen Entscheidung des BGB für den Vorrang der privatautonom gestalteten Erbregelung zuwiderlaufen. Für eine ergänzende Auslegung besteht daher jedenfalls in den Fällen ein Bedürfnis, in denen der Erblasser es nicht in der Hand hatte, nachträgliche Lücken durch neue letztwillige Verfügungen zu schließen.
336
Die Zulässigkeit der ergänzenden Testamentsauslegung ist heute allgemein anerkannt.[37] Zwar findet sich im BGB keine ausdrückliche Rechtsgrundlage, jedoch lässt sie sich auf den Sinn und Zweck des § 2084 stützen, möglichst der testamentarischen Regelung zur Wirksamkeit zu verhelfen.[38] Zudem finden sich im BGB eine Reihe von Bestimmungen, in denen nachträglich entstandene Lücken des Testaments durch zusätzliche Verfügungsinhalte geschlossen werden können (z.B. § 2069, 2169 Abs. 3 oder § 2173, → Rn. 351 ff., 913 f.); diese waren vom Gesetzgeber nicht als Ausnahmen gedacht, sondern sind Ausdruck eines allgemeinen Grundgedankens.[39]
337
Voraussetzung für die ergänzende Testamentsauslegung ist zunächst eine planwidrige Lücke.[40] Eine solche liegt vor, wenn ein bestimmter, tatsächlich eingetretener Fall vom Erblasser nicht bedacht und deshalb nicht geregelt wurde, aber geregelt worden wäre, wenn ihn der Erblasser bedacht hätte.[41] Maßgeblich ist insoweit eine wertende Gesamtbetrachtung aller Umstände bei Testamentserrichtung.[42] Wenn der Erblasser dagegen bewusst Lücken gelassen (z.B. bewusst nur über einen Teil seines Vermögens verfügt hat[43] oder bewusst keinen Ersatzerben eingesetzt hat[44]), ist eine ergänzende Auslegung weder zulässig noch geboten, sondern würde vielmehr dem Ziel, dem wirklichen Willen des Erblassers zur Geltung zu verhelfen, zuwiderlaufen.
338
Liegt eine planwidrige Regelungslücke vor, so ist zu prüfen, ob ein hypothetischer Wille des Erblassers ermittelt werden kann, anhand dessen die vorhandene Lücke geschlossen werden könnte.[45] Maßgeblich ist nicht der mutmaßliche wirkliche Wille des Erblassers, sondern vielmehr der Wille, den er vermutlich gehabt hätte, wenn er die planwidrige Unvollkommenheit der letztwilligen Verfügung im Zeitpunkt ihrer Errichtung erkannt hätte.[46] Spätere (reale) Äußerungen des Erblassers können nur herangezogen werden, soweit sich aus ihnen Rückschlüsse auf den Willen im Zeitpunkt der Testamentserrichtung ziehen lassen; andernfalls würden durch die ergänzende Auslegung die Formvorschriften des Widerrufs umgangen werden.[47] Grenzen für die ergänzende Testamentsauslegung ergeben sich zudem aus den gesetzlichen Formerfordernissen und den allgemeinen Grundsätzen der Andeutungstheorie: Durch die ergänzende Auslegung darf kein Wille in das Testament hingetragen werden, der darin nicht wenigstens andeutungsweise ausgedrückt ist.[48] Lässt sich nach diesen Grundsätzen kein hypothetischer Wille des Erblassers feststellen, so muss es trotz vorhandener Regelungslücke beim bisherigen Auslegungsergebnis bleiben.[49]
Insb. ist es auch nicht möglich, das Rechtsinstitut der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313) heranzuziehen; denn dieses wurde für schuldrechtliche Austauschverträge entwickelt und ist daher auf eine unentgeltliche erbrechtliche Zuwendung nicht anwendbar.[50]
339
Typische Fälle, in denen eine ergänzende Auslegung in Betracht kommt, sind[51]: Vorversterben einer bedachten natürlichen Person[52], Erlöschen oder Insolvenz einer bedachten juristischen Person[53], Hinzutreten weiterer Personen[54], Veränderungen hinsichtlich des vermachten Gegenstandes[55], Veränderungen in der Vermögenssituation des Erblassers (z.B. unerwarteter Vermögenserwerb[56]), Änderung der Rechtslage[57] oder inflationäre Geldentwertung[58].
7. Wohlwollende Auslegung (§ 2084)
340
Wenn der Inhalt einer letztwilligen Verfügung verschiedene Auslegungen zulässt, so ist gem. § 2084 im Zweifel diejenige Auslegung vorzuziehen, bei welcher die Verfügung Erfolg haben kann (sog. wohlwollende Auslegung – benigna interpretatio). Zweck der Vorschrift ist es, dem Testierwillen des Erblassers soweit wie möglich zur rechtlichen Geltung zu verhelfen.[59] Mit „Erfolg“ ist deshalb nicht etwa schlicht die Rechtswirksamkeit der Verfügung gemeint, sondern die rechtswirksame Erreichung des vom Erblasser gewollten Ziels der Verfügung.[60] Bei diesem Verständnis erscheint § 2084 nicht als Gegensatz,