Handbuch Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
nicht erforderlich.[200] Von diesem Standpunkt aus betrachtet existiert keine Privilegierung der politischen Parteien, die mit der in Deutschland geltenden vergleichbar wäre. Auch gibt es keine Regeln, welche die Organisierung der parteiinternen Demokratie oder Verfahren zur Verhängung von Strafen für allzu oligarchische Parteistrukturen zum Gegenstand hätten.
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Da die Souveränität „national“ geprägt ist und ihr „Ursprung“ dem Wortlaut des Art. 3 der Erklärung von 1789 zufolge „dem Wesen nach bei der Nation liegt“, schafft sie einige Hindernisse und Hürden für die Integration Frankreichs in die Europäische Union.[201] Indes sind diese Hindernisse aufgrund der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel nicht unüberwindbar: Da die Verfassungsgesetze keiner richterlichen Prüfung unterliegen (oben Rn. 47), darf der verfassungsändernde Gesetzgeber de facto ohne Beschränkung die französische Verfassung „öffnen“.
d) Rechtsstaat
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Der Ausdruck „Rechtsstaat“ ist als solcher im Verfassungstext nirgends aufgeführt. Auch von der Rechtsprechung wird er nicht verwendet. Wenn die Rechtswissenschaft diesen Ausdruck enthusiastisch verwendet, dann mehr als Slogan denn als Konzept. Hin und wieder findet sich ein Konstruktionskonzept des Rechtsstaates, das an Kelsen angelehnt ist und allenfalls einen rein formellen Begriff offen legen kann – der „Rechtsstaat“ gleichsam als „Rechtssystem“ mit einigen Eigenschaften im Hinblick auf die Bestimmtheit der Normen des Systems und die Existenz von Kontrollverfahren zur Prüfung der Vereinbarkeit untergeordneter Normen mit höherrangigen.[202]
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Beschränkt man sich auf diese formelle Definition des „Rechtsstaats“, so ist das französische System im Wesentlichen rechtsstaatskonform. Seit Ende der 1990er Jahre hat der Conseil constitutionnel seine eigene Rechtsprechung zu Klarheits-, Erkennbarkeits- und Verständlichkeitsvoraussetzungen entwickelt, um das französische Rechtssystem entsprechend den Anforderungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auszugestalten.[203] Auch darf das Gesetz, das gemäß Art. 6 der Erklärung von 1789 als Ausdruck des allgemeinen Willens gilt, nicht lediglich Absichtserklärungen, Empfehlungen oder ehrenvolle Wünsche zum Ausdruck bringen, sondern muss von „normativer Tragweite“ sein.[204] Ergänzt man dies durch die Beschränkungen, die der nur bei „allgemeinem öffentlichem Interesse“[205] zu rechtfertigenden Rückwirkung von Gesetzen auferlegt wurden, zeichnet sich das eindeutige Bemühen der Rechtsprechung ab, die „Rechtssicherheit“[206] oder allgemeiner die „Gesetzesqualität“[207] zu verbessern, die noch zu Beginn der 1990er Jahre vom Conseil d’État vehement kritisiert worden war.[208]
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Überdies kann man sagen, dass das französische Recht im Bereich der Grundrechte das Prinzip des Gesetzesvorbehalts (réserve de loi) eigenständig sicherstellt, wobei sich der Begriff des Gesetzesvorbehalts unter dem Einfluss des deutschen Rechts und dessen Mediatisierung durch das System der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte[209] vermehrt auch in der französische Lehre[210] findet. In der Tat decken die gemäß Art. 34 CF der Zuständigkeit des Gesetzgebers vorbehaltenen Bereiche im Wesentlichen auch die Schutzbereiche der verfassungsrechtlich verbürgten Rechte ab. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass dieses Prinzip des Gesetzesvorbehalts Ausnahmen oder bisweilen schwer verständliche Lockerungen kennt. So überträgt Art. 16 CF auch im Bereich der Grundrechte die wesentlichen Gesetzgebungsbefugnisse dem Präsidenten der Republik, die Praxis der Ordonnances entzieht dem Parlament die Normsetzungsbefugnis über Gegenstände, die Eingriffe in die Schutzbereiche verfassungsrechtlich verbürgter Rechte und Freiheiten darstellen können, und schließlich hält die Verwaltungsgerichtsbarkeit, obwohl die Präambel der Verfassung von 1946 einen speziellen Gesetzesvorbehalt vorsieht, daran fest, dass in Ermangelung eines anwendbaren Gesetzes die Verwaltungsdienststelle für die Organisierung des Streikrechts in Verwaltungsbehörden und öffentlichen Einrichtungen zuständig ist.[211]
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Unter Berufung auf Art. 16 der Erklärung von 1789, der die „Gewährleistung der Rechte“ sicherstellt, hat der Conseil constitutionnel hinsichtlich des Kontrollverfahrens zur Prüfung der Akte der öffentlichen Gewalt die Befugnis der jeweils betroffenen Personen hergeleitet, „Beschwerde bei einer Gerichtsbarkeit einzulegen“[212]. In den 1990er Jahren wurden das Verwaltungsverfahren und die Befugnisse des Verwaltungsrichters ausgebaut und hierdurch die Effizienz der Verfahren spürbar verbessert, insbesondere was die Voraussetzungen des vorläufigen Schutzes und das Eilverfahren anbetrifft. Zur selben Zeit etwa entwickelte die Verwaltungsgerichtsbarkeit ihre Rechtsprechung im Sinne einer merklichen Verringerung der Kategorie nicht-justitiabler Akte wie Regierungshandlungen (actes de gouvernement) und behördeninterne Anweisungen (mesures d’ordre intérieur) fort.[213] Gleichzeitig kompensierte die Fachgerichtsbarkeit – unter Berufung auf die in völkerrechtlichen Verträgen anerkannten Rechte und Verbürgungen (oben Rn. 37 und 91) – die Inexistenz einer Individualbeschwerde und räumte den international verbürgten Rechten und Grundfreiheiten einen wirksamen Schutz auf nationaler Ebene ein.
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Diese jüngeren Entwicklungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung sind größtenteils Folge des Drucks, den das System der Europäischen Konvention für Menschenrechte auf das nationale System ausübt, seitdem die Individualbeschwerde 1981 von Frankreich zugelassen wurde. Das System der Europäischen Menschenrechtskonvention hat diese Gleichstellung der Instrumente zur Rechtsgarantie in Frankreich bewirkt und das Land in den europäischen Raum integriert, der maßgeblich unter dem Zeichen der „Herrschaft des Rechts“ steht. Hieraus ergibt sich nicht zuletzt, dass Frankreich – über die formellen Komponenten der Herrschaft des Rechts oder des Staates hinaus, die ohnehin weitgehend europäischen Maßstäben entsprechen – nunmehr auch die „materiellen“ Elemente dieses Prinzips,[214] die gemeinsamen europäischen Freiheitsrechte teilt. Frankreich kam in der langen Geschichte der europäischen Freiheitsrechte mit der Revolution und der Erklärung von 1789 zweifelsohne eine entscheidende Rolle zu, zumindest in symbolischer Hinsicht. Dennoch kann man sagen, dass Frankreich in weiten Teilen erst durch Europa und in besonderem Maße durch den Mechanismus der Europäischen Menschenrechtskonvention[215] zu den Bemühungen gezwungen wurde, die für eine wirksame Sicherstellung der Herrschaft des Rechts erforderlich waren – ein Belang, dem der Verfassunggeber von 1958 keine besondere Bedeutung eingeräumt hat. Allerdings hatten die anfänglichen Unzulänglichkeiten der Verfassung zur Folge, dass den Fachgerichten und besonders der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Vergleich zur Verfassungsgerichtsbarkeit eine besonders gewichtige und selbständige Rolle im Bereich des Schutzes der individuellen öffentlichen Rechte zukommt. Die größten formellen und materiellen Lücken, die das System bis in die 1970er Jahre hinein aufwies, wurden verhältnismäßig gut geschlossen, als ob das wahre Frankreich Europa benötigt hatte, um ein bisschen „grande nation“, das symbolische Frankreich von 1789, das Land der Menschenrechte zu werden.
e) Sozialstaat
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Dem Prinzip, wonach „Frankreich eine soziale Republik ist“, kommt als solchem in der Rechtsprechung keine praktische Bedeutung zu. Es hat allenfalls symbolische Funktion. Der Grund hierfür ist, dass die mit Verfassungsrang in Kraft bleibende Präambel der Verfassung von 1946 eine Reihe besonderer sozialer Garantien beinhaltet, die den Rückgriff auf die Generalklausel der „sozialen Republik“ erübrigen. Während der Rückgriff auf die Formel des „Sozialstaats“ in Deutschland ermöglicht, der Interpretation der klassischen Grundrechte den Weg zu weisen, so spielt die Formel der „sozialen Republik“ in Frankreich