Handbuch Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
Rahmen folgender Funktionen zu: Er wacht über die Ordnungsmäßigkeit der Wahl des Präsidenten der Republik, prüft die Beschwerden und gibt das Wahlergebnis bekannt (Art. 58 CF); er entscheidet im Falle der Anfechtung über die Ordnungsmäßigkeit der Wahl der Parlamentsmitglieder sowie über den Verlust des parlamentarischen Mandats, wenn ein Parlamentsmitglied während seiner Amtszeit eine mit seinem Mandat unvereinbare Funktion annimmt oder unwählbar wird (Art. 59 CF); er wacht über die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens bei einem Referendum und gibt dessen Ergebnisse bekannt (Art. 60 CF); er entscheidet präventiv über die Verfassungsmäßigkeit der Organgesetze, der Geschäftsordnungen der parlamentarischen Kammern (in diesen beiden Fällen ist die Kontrolle obligatorisch), der einfachen Gesetze sowie der völkerrechtlichen Verträge (Art. 54 und 61 CF);[158] er entscheidet über die Frage, ob ein Gesetzesentwurf (Präventivverfahren: Art. 41 CF) bzw. ein geltendes Gesetz (vom Premierminister berufen: Art. 37 Abs. 2 CF) eine Bestimmung enthält, die materiell Verordnungscharakter trägt; er entscheidet im Falle einer Vakanz des Amtes des Präsidenten der Republik oder dessen Verhinderung (Art. 7 CF).
Funktional betrachtet liegt die Singularität des Conseil constitutionnel darin, dass das Institut der konkreten Normenkontrolle überhaupt nicht existiert.[159] Außerdem fehlt die Individualbeschwerde im Sinne der deutschen Verfassungsbeschwerde bzw. des spanischen Amparos.
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All diese Besonderheiten haben in den ersten Jahren der Fünften Republik eine große Diskussion hervorgerufen. Die Mehrheit vertrat bis in die 1970er Jahre die Ansicht, er sei ein politisches Gremium zur Sicherung des neuen Gewaltenteilungssystems.[160] Die Institution erfuhr dann jedoch eine so tief greifende Veränderung, dass eine neue herrschende Meinung sich nach und nach durchsetzen konnte. Der Conseil constitutionnel wurde zum „Verfassungsgerichtshof“[161]. Hierauf wird unten näher eingegangen (Rn. 88ff.).
§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › III. Die Struktur des Verfassungssystems › 2. Die Beziehungen zwischen den Verfassungsgewalten
a) Die Beziehungen innerhalb der Exekutive
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Die Beziehungen innerhalb der Exekutive sind von der Undurchsichtigkeit der einschlägigen Verfassungsnormen gezeichnet. Sie setzen Kompetenzen fest, die stellenweise früheren Verfassungstexten entnommen sind. Indes blieben die von den früheren republikanischen Verfassungstexten festgesetzten Kompetenztitel grundsätzlich formeller und nomineller Natur, zumal die Präsidentschaft in der Dritten und Vierten Republik eine im Wesentlichen ehrenamtliche und symbolische Aufgabe darstellte: Der Staatschef unterzeichnete bloß die in der Sache von der Regierung getroffenen Beschlüsse. Da die Präsidentschaft in der Fünften Republik nunmehr ein machtvolles politisches Amt sein soll, werden die dem Präsidenten zugewiesenen Kompetenztitel als Garantie tatsächlicher Machtbefugnisse, zumindest aber als Einflussmöglichkeit auf Verfassungssystem und politische Strukturen gedeutet. Allerdings konkurrieren diese Befugnisse in recht umfassendem Maße mit den parallel dem Premierminister oder der Regierung zugesprochenen Kompetenzen. Art. 15 CF beispielsweise macht den Präsidenten der Republik zum „Oberbefehlshaber der Streitkräfte“. Wenn diese Aufgabe als Zuweisung von Kompetenztiteln und effektiver Gewalt aufgefasst werden kann, wie ist sie dann in Einklang zu bringen mit der Regelung aus Art. 21 CF, der zufolge der Premierminister „für die Landesverteidigung verantwortlich“ ist? Es ist zwecklos, in einer Interpretation des Verfassungstexts selbst nach einer Antwort auf diese Frage zu suchen. Überdies verfügen weder der Conseil constitutionnel noch die Verwaltungsgerichtsbarkeit über die notwendigen Befugnisse, um die aufgeworfenen Fragen abschließend zu beurteilen. Faktisch bestimmen die institutionelle Praxis und vornehmlich die Praxis der Exekutive über diese Kompetenzverteilung. Allerdings unterliegt diese Praxis starken Schwankungen, je nachdem ob die Regierung in Cohabitation regiert oder nicht. Ein vom Parlament unterstützter Premierminister in Cohabitation erfüllt in vollem Umfang die Aufgaben, die der Verfassungstext ihm überantwortet und „leitet die Tätigkeit“ einer Regierung (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 CF), die ihrerseits – unabhängig von jeglicher Weisung des Präsidenten – „die Politik der Nation bestimmt und führt“ (Art. 20 Abs. 1 CF). Im Gegenzug tendieren entsprechend den politischen Orientierungen des Präsidenten ernannte Premierminister und Regierungen dazu, Vollstrecker der vom Staatschef festgelegten Politik zu werden.[162]
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Völlig ungeachtet der politischen Zusammensetzung der Exekutive normiert Art. 19 CF eine ausdrückliche Regel, die eine gewisse Autonomie des Präsidenten und dessen Eigenschaft als tatsächlicher politischer Akteur gleichermaßen symbolisiert und garantiert. Einige Akte des Staatschefs sind von einer Gegenzeichnung entbunden. Diese Akte werden generell als „eigene Befugnisse“ (pouvoirs propres) des Präsidenten bezeichnet. Er allein übernimmt die Verantwortung für diese Handlungen, eine Verantwortung, die auch nicht vom Parlament in Frage gestellt werden kann. Diese spezifisch präsidentiellen Befugnisse umfassen neben der schon erwähnten Ernennung des Premierministers den Rückgriff auf das Legislativreferendum (Art. 11 CF), die Auflösung der Nationalversammlung (Art. 12 CF), die Ergreifung der Ausnahmebefugnisse (Art. 16 CF), die Ausübung des Mitteilungsrechts, das ihn zum Verkehr mit dem Parlament über Mitteilungen berechtigt (Art. 18 CF), die Ernennung dreier Mitglieder des Conseil constitutionnel und seines Vorsitzenden (Art. 56 CF) sowie die Anrufung des Conseil constitutionnel (Art. 54 und 61 CF). Sie ermöglichen dem Präsidenten die Wahrnehmung seiner Aufgaben, wie sie in Art. 5 CF definiert sind: über die Achtung der Verfassung zu wachen, die ordnungsgemäße Funktionsweise der öffentlichen Gewalt und die Kontinuität des Staates sicherzustellen, die nationale Unabhängigkeit, die territoriale Integrität sowie die Einhaltung völkerrechtlicher Verträge zu garantieren.
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Der Ministerrat ist – wie gesagt – das Kollegialorgan der Regierung. Einer französischen Tradition zufolge, die bis auf die konstitutionellen Monarchien (1814–1848) zurückgeht, übernimmt paradoxerweise nicht, wie im parlamentarischen Regime sonst üblich, der Regierungschef den Vorsitz dieser wöchentlichen Versammlung der Regierungsmitglieder, sondern der Staatschef. Die Gesamtheit der wichtigsten Regierungsbeschlüsse wird im Rahmen des Ministerrates erörtert und gefasst: Ernennung zu den höchsten zivilen und militärischen Staatsämtern, die wichtigsten Dekrete sowie alle Ordonnances, Gesetzesvorlagen, der Beschluss, in der Nationalversammlung die Vertrauensfrage zu stellen (Art. 13, 38, 39 und 49 CF). Die Tagesordnung wird auf Vorschlag des Premierministers vom Präsidenten der Republik festgesetzt. Alle im Ministerrat durchgesehenen Dekrete (Regierungsverordnungen und Ernennungen) und Ordonnances werden vom Präsidenten der Republik unterzeichnet. Diese Unterschrift stellt die Ausübung einer tatsächlichen, nicht einer lediglich nominellen Kompetenz des Präsidenten dar. Die vom Staatschef unterzeichneten Dekrete sind an der Spitze der Hierarchie der Verwaltungsmaßnahmen (actes administratifs) anzusiedeln, können also nicht durch einfaches Dekret des Premierministers modifiziert werden. Der Regierungschef übt „unter Vorbehalt des Art. 13“, d.h. vorbehaltlich der im Ministerrat erörterten und vom Präsidenten unterzeichneten Dekrete, das Verordnungs- und Ernennungsrecht aus (Art. 21 Abs. 1 Satz 4 CF). Da jedoch, was Verordnungen anbetrifft, keine allgemeine materielle oder formelle Vorschrift existiert, die klar bestimmt, welche Maßnahmen dem Ministerrat unterstehen, führt die Praxis zu einem vom Conseil d’État gebilligten Evokationsrecht des Präsidenten: Im Ministerrat sind diejenigen Regierungsverordnungen zu erörtern, für welche die Verfassung oder ausnahmsweise ein Gesetz dies vorsieht, sowie diejenigen, die der Präsident eigenmächtig aufwirft.[163] Zudem stellt diese Präsidialfunktion im Rahmen des Ministerrates eine uneinnehmbare Bastion dar, mit der der Präsident selbst im Falle der Cohabitation noch über Möglichkeiten zur Einflussnahme verfügt, indem er die Aufnahme eines Themas in die Tagesordnung ablehnt oder aber die Unterzeichnung eines von der Regierung vorgeschlagenen Dekrets