Handbuch Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
Die Präambel der Verfassung von 1946 verkündet feierlich die Verbundenheit des französischen Volkes mit den „von den Gesetzen der Republik anerkannten Fundamentalprinzipien“[189]. Wie schon erwähnt, hat der Conseil constitutionnel der Präambel der Verfassung von 1958, die Bezug nimmt auf die Präambel der Vierten Republik, entnommen, dass die von Gesetzen der Republik anerkannten Fundamentalprinzipien selbst von Verfassungsrang sein müssten (oben Rn. 40). Folglich wird eine gewisse Gesetzgebungstradition der Republik in Verfassungsrang erhoben. Doch werden hierdurch nicht die republikanischen Gesetze selbst konstitutionalisiert, sondern nur das jeweilige „Prinzip“, das sie „anerkennen“. Es handelt sich also darum, mittels Interpretation und unter Zugrundelegung eines oder mehrerer republikanischer Gesetze ein Prinzip ausfindig zu machen, das der historische Verfassungsgesetzgeber hat rechtlich verankern wollen. Zu beachten ist auch, dass diesen Prinzipien als Verfassungsnorm unter dem Einfluss der Verfassung der Fünften Republik die Bedeutung ungeschriebenen Verfassungsrechts zukommt. Über diese spezifische Konstruktion wurden inzwischen Verfassungsrang zugesprochen: der Vereinigungsfreiheit, der Achtung der Strafverteidigungsrechte, der Freiheit der Lehre, der Existenz und Unabhängigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit, deren Zuständigkeit für die Aufhebung einseitiger Verwaltungsmaßnahmen, der Unabhängigkeit der Universitätsdozenten sowie der Verpflichtung des Staates, die Auslieferung von Ausländern zu verweigern, wenn die Auslieferungsanfrage ein politisches Ziel verfolgt.
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Des Weiteren sind in der Verfassung die grundsätzlichen und substanziellen Eigenschaften der Republik aufgezählt, die „unteilbar, laizistisch, demokratisch und sozial“ ist (Art. 1 Satz 1 CF). Satz 2 verknüpft dieses substanzielle republikanische Prinzip mit der „Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Herkunft, der Rasse oder Religion“[190].
b) Die dezentralisierte Republik
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Der Zentralismus ist unbestritten eine französische Tradition, und die Revolution verstärkte sogar noch diesen bis ins Ancien Régime zurückreichenden Brauch. Schon die Verfassungen von 1793, 1795, 1799 und 1848 proklamierten die Republik als „eine und unteilbare“[191]. Demzufolge konnte der Staat nur als Einheitsstaat konzipiert und konstituiert werden. Die Formel der Verfassung von 1946 wurde in die Verfassung von 1958 übernommen: „Frankreich ist eine unteilbare Republik“ (Art. 1 Satz 1 CF).[192] Demgegenüber fügte das Verfassungsänderungsgesetz vom 28. März 2003 Art. 1 CF einen letzten Satz hinzu: „Ihre Organisation [i.e. der Republik] ist dezentralisiert.“[193] Die Dezentralisierung ist freilich kein neues Phänomen;[194] schon die Julimonarchie hatte einige Schritte in Richtung der „lokalen Freiheiten“ unternommen. Auch in der Dritten Republik wurde durch das Gesetz vom 10. August 1871 zur Verfassung der Départements (der sog. Charte des Départements) sowie durch das Gesetz vom 5. April 1884 zur kommunalen Verfassung recht schnell eine genuine Dezentralisierung in die Wege geleitet. Trotz mehrerer Veränderungen blieben die Grundprinzipien dieser beiden Gesetze bis 1982 in Kraft.
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Das Gesetz vom 2. März 1982 und einige im folgenden Jahr verabschiedete Gesetze hatten eine Umgestaltung der lokalen Verwaltung zum Gegenstand. Die Staatsaufsicht wurde stark gelockert, die Regionen als Gebietskörperschaften (collectivités territoriales) errichtet.[195] Des Weiteren wurde die Exekutive der Départements und Regionen nun nicht mehr dem Préfet als lokalem Staatsvertreter, sondern einem vom jeweiligen Rat gewählten Präsidenten anvertraut. Nicht zuletzt wurden die Kompetenzen der Gebietskörperschaften insgesamt stark ausgeweitet, um die Autonomie der Gemeinden, Départements und Regionen zu sichern. Zu Recht gilt diese Reform als Markstein des Dezentralisierungsprozesses in Frankreich.
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Mit der 2003 verabschiedeten Reform hat der Begriff der Dezentralisierung erstmals Eingang in einen französischen Verfassungstext gefunden (Art. 72ff. CF). Allerdings setzt die Verfassungsänderung von 2003 eine subtile Unterscheidung voraus: Die Republik als politischer Körper ist und bleibt „unteilbar“, ihre Verwaltungsorganisation ist jedoch dezentralisiert. Auch ersteres trifft nur bedingt zu, da manche Gebiete in Übersee, auch in internationalen Angelegenheiten, tatsächlich über politische Entscheidungskompetenzen verfügen. Im Hinblick auf diese überseeischen Verhältnisse wurde schon 1982 die Frage aufgeworfen, ob Frankreich unbewusst nicht eine Föderation sei.[196] Der 1998 oktroyierte Verfassungsstatus Neukaledoniens setzte noch Akzente in Bezug auf diese Pluralisierung des französischen Staats. Kurz: Die Verfassungsnovelle von 2003 garantiert den Gebietskörperschaften Normsetzungsbefugnisse, eröffnet ihnen unter strengen Voraussetzungen die Möglichkeit zur Abweichung von manchen Gesetzesbestimmungen, führt das Subsidiaritätsprinzip ein, ermöglicht das lokale Referendum und legt die Grundsätze der finanziellen Beziehungen zwischen Staat und Gebietskörperschaften fest.
c) „Demokratie“ und „nationale Souveränität“
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Gemäß Art. 1 CF ist die Republik „demokratisch“[197]. Diese Eigenschaft wird sogleich in Art. 3 CF übersetzt, nach dem „die nationale Souveränität beim Volke liegt, das sie durch seine Vertreter und das Referendum ausübt“. Im Grundsatz ist die Demokratie nicht rein repräsentativ. Über die Deutung, dass das Referendumsgesetz (oben Rn. 44) die „unmittelbare Ausübung nationaler Souveränität“ darstellt, arbeitet der Conseil constitutionnel den Unterschied zwischen den beiden Arten der Souveränitätsausübung heraus. Einzige Konsequenz dieser Unterscheidung liegt darin, dass der Conseil constitutionnel nicht für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Referendumsgesetzen zuständig ist. Im Gegenzug räumt die Norm ein, dass parlamentarische Gesetze ein Referendumsgesetz abändern oder gar aufheben können. Eine formelle Hierarchie zwischen beiden Gesetzeskategorien besteht also nicht.
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Das Demokratieprinzip findet Ausdruck in der Allgemeinheit des Wahlrechts. Die Bestimmung der Ausübungsvoraussetzungen des aktiven und passiven Wahlrechts gehört zum Zuständigkeitsbereich des Gesetzgebers. Dieser Zuständigkeitsbereich ist indes durch Art. 3 Abs. 4 CF verfassungsrechtlich begrenzt: „Wahlberechtigt sind nach Maßgabe des Gesetzes alle volljährigen französischen Staatsangehörigen beiderlei Geschlechtes, die im Besitz ihrer bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte sind.“ Der Gesetzgeber setzt hiernach das Wahlalter sowie die Motive und Verfahren fest, nach denen ein französischer Staatsangehöriger in seinen bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechten eingeschränkt werden kann. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es zu einer solchen Rechtsentziehung in Einklang mit der republikanischen Tradition jedenfalls einer Gerichtsentscheidung bedarf.
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Den „politischen Parteien und Gruppen“ wird nunmehr eine über Art. 4 CF näher bestimmte verfassungsrechtliche Stellung zugesprochen. Indes gibt es in Frankreich im Unterschied zu Deutschland kein die allgemeine Stellung der politischen Parteien regelndes Gesetz.[198] Allein die Gesetze zur Finanzierung des politischen Lebens statuieren besondere Regeln. Im Übrigen sind die Parteien, die einer präzisen juristischen Definition ermangeln, grundsätzlich den allgemeinen gesetzlichen Regelungen zu den Vereinigungen unterworfen. Das Gesetz vom 10. Januar 1936 über Kampfgruppen und Privatmilizen ermöglicht dem Staatschef, per Dekret Gruppen aufzulösen, deren Ziel es ist, „die territoriale Integrität der Nation zu beeinträchtigen oder der republikanischen Regierungsform durch Gewaltanwendung zu schaden.“ Der Conseil d’État hat die Auflösung einer Vereinigung für gerechtfertigt erklärt, deren „Ziel die Zerstörung des republikanischen Regimes und dessen Ersetzung