Handbuch Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
und unauflösliche Versammlung ist, die alle drei Jahre zur Hälfte erneuert wird.
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Auf die Parlamentskammern, deren Organisierung derjenigen anderer parlamentarischer Regime in Europa ähnelt, soll hier nicht näher eingegangen werden.[147] Allerdings soll auf ein Charakteristikum des französischen Verfassungssystems hingewiesen werden. In den früheren Republiken war es üblich zu behaupten, die wahre Verfassung Frankreichs liege in der Geschäftsordnung der Parlamentskammern. Diese Redensart, die eine tiefe Wahrheit des französischen Parlamentarismus zum Ausdruck bringt, legte die fundamentale Rolle der parlamentarischen Geschäftsordnung in der Errichtung und Organisierung der Vormachtstellung der beiden Kammern und somit des Regimes der „parlamentarischen Souveränität“ offen dar. Der Verfassunggeber von 1958 hat gegen einen solchen Drift zweierlei Vorkehrungen getroffen. Zunächst enthält der Verfassungstext nunmehr eine bedeutende Zahl an Vorschriften über die Organisierung des Parlaments und seine Arbeit; Regelungen, die ehemals größtenteils der Geschäftsordnung des Parlaments oder dem Gesetz unterlagen. Die Fähigkeit zur Selbstorganisierung des Parlaments wurde mit der Konstitutionalisierung dieser Regeln beträchtlich reduziert. Die gewichtigsten Vorschriften betreffen wohl das Regime der parlamentarischen Sitzungsperioden (Art. 28 bis 30 CF), die Begrenzung des Initiativrechts und Änderungsantragsrechts der Parlamentsmitglieder (Art. 40 und 41 CF), die detaillierte Reglementierung des Gesetzgebungsverfahrens (Art. 42 bis 47-1 CF), die Begrenzung der Anzahl ständiger Ausschüsse auf sechs in jeder Kammer (Art. 43 Abs. 2 CF) und nicht zuletzt die Bestimmung der Tagesordnung beider Kammern durch die Regierung (Art. 48 CF). Diese Vorschriften zeigen deutlich das Ausmaß der dem Parlament seit 1958 auferlegten Kompetenzbeschneidungen, ein Phänomen, das trotz einiger Lockerungsmaßnahmen[148] weiterhin aktuell bleibt. Des Weiteren bedurften diese in der Verfassung verankerten Vorschriften wirksamer Sanktionen, die eine Umgehung der Normen durch das Parlament, zumal durch die Annahme entsprechender Geschäftsordnungen, untersagen sollten. Die wichtigste Regel ist diesbezüglich in Art. 61 Abs. 1 CF normiert, der dem Conseil constitutionnel nicht nur die Zuständigkeit für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit parlamentarischer Geschäftsordnungen zuspricht, sondern diese Verfassungsmäßigkeitskontrolle auch zwingend vorschreibt. Genau das war eine der wesentlichen dem Conseil constitutionnel 1958 zugewiesenen Aufgaben, die er seither gründlichst erfüllt.[149]
c) Der Conseil constitutionnel
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Am 27. August 1958 stellte der Justizminister, Michel Debré, die in der französischen Verfassungsgeschichte bislang unbekannte Institution des Conseil constitutionnel (Verfassungsrat)[150] der Generalversammlung des Conseil d’État wie folgt vor: „Die Errichtung des Conseil constitutionnel bringt den Willen zum Ausdruck, das Gesetz, d.h. die Entscheidung des Parlaments, der in der Verfassung verankerten höheren Norm zu unterstellen. Es gehört weder zum Geist des parlamentarischen Systems noch zur französischen Tradition, der Justiz, d.h. jedem Rechtssuchenden, ein Prüfungsrecht hinsichtlich des Wertes [„valeur“] des Gesetzes zuzugestehen. Dementsprechend sieht der Entwurf eine besondere Institution vor, die von nur vier Autoritäten angerufen werden kann: vom Präsidenten der Republik, vom Premierminister, von den Präsidenten der beiden Kammern. [...] So hat die Verfassung eine Waffe gegen den Irrgang des parlamentarischen Regimes geschmiedet.“[151] Zu Beginn war es äußerst schwierig, den neuen Conseil constitutionnel irgendeiner bekannten Kategorie des Staatsrechts zuzuordnen. In seiner berühmten Rede vom 4. September 1958, die den endgültigen Verfassungsentwurf dem französischen Volk präsentieren soll, kann General de Gaulle die neue Institution nicht einmal korrekt benennen und spricht von einem „Comité constitutionnel“. Eine Art „cour suprême“ sagt der Generalberichterstatter vor dem Conseil d’État.[152] „Ich denke nicht“, behauptet hingegen der Regierungsvertreter vor dem Comité consultatif constitutionnel am 31. Juli 1958, „dass der Text zur Idee einer cour suprême und einem gouvernement des juges führt.“[153] Als die Frage nach der Wirkung der Entscheidungen des Conseil constitutionnel beim Conseil d’État erörtert wird, wird der Vorschlag vorgebracht, diesen Entscheidungen formelle Rechtskraft zuzuschreiben. Der Regierungsvertreter lehnt sogleich den Ausdruck „Rechtskraft“ (autorité de chose jugée) mit der Begründung ab, er „fürchte, dass der Ausdruck ‚autorité de la chose jugée` bedeuten würde, diese Institution sei ein Gericht, und davon [sei er] nicht überzeugt.“[154] Später aber, als es um die Zusammensetzung der Institution geht, besteht ein Mitglied des Conseil d’État darauf, der Conseil constitutionnel solle zumindest im Falle von Streitigkeiten bei den Parlamentswahlen eine „Rechtsprechungsfunktion“ übernehmen. Doch fügt er merkwürdigerweise hinzu: „Ich freue mich auf die Mitgliedschaft der ehemaligen Staatschefs im Conseil constitutionnel.“[155] Es fällt also offensichtlich schwer, die neue Institution in eine überlieferte Kategorie von Staatsfunktionen einzuordnen. Des Öfteren ist auch von einem „politisch-juristischen Körper“ die Rede, eine Beschreibung, die wenig Sinn hat. Ob der Conseil constitutionnel anfangs als Verfassungsgericht konzipiert wurde, ist mehr als fraglich, zumal im französischen Verfassungstext nirgends von einer „Verfassungsgerichtsbarkeit“ die Rede ist. Die Aufgaben des Conseil constitutionnel sind nicht explizit als Rechtsprechungsfunktionen gekennzeichnet, seine Mitglieder nicht als „Richter“ aufgeführt. Nicht nur funktionell, sondern auch der Organisation und dem Verfahren nach stellt der Conseil constitutionnel eine etwas sonderbare Institution dar.[156]
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In Hinblick auf die Zusammensetzung des Conseil constitutionnel sei darauf hingewiesen, dass dessen Mitglieder sich in zwei Kategorien unterteilen. In Art. 56 CF heißt es: „Der Conseil constitutionnel besteht aus neun Mitgliedern.“ Dann aber: „Außer diesen neun Mitgliedern gehören dem Conseil constitutionnel noch weitere Personen an“. Die neun ordentlichen Mitglieder werden vom Präsidenten der Republik, vom Präsidenten der Nationalversammlung und vom Senatspräsidenten ernannt. Es gibt also kein Wahlverfahren, sondern nur Ernennungen. Hinzu kommt, dass diese neun Mitglieder ohne jede andere Bedingung als die der französischen Staatsangehörigkeit ausgewählt werden. Eine juristische Ausbildung ist demzufolge keine Voraussetzung. Dennoch ist der Conseil constitutionnel in seiner Entscheidung vom 20. Februar 2003 der Ansicht, dass „juristische Kenntnisse eine notwendige Bedingung zur Ausübung von Rechtsprechungsfunktionen“ darstellen.[157] Ein reines Ernennungsverfahren ohne Beteiligung der parlamentarischen Kammern und das Fehlen jedweder bindender Bestellungsbedingung sind europaweit einzigartig für ein „Verfassungsgericht“. Überdies sind die anderen Personen, die von Rechts wegen dem Conseil constitutionnel angehören, die ehemaligen Präsidenten der Republik. Eine solche Zusammensetzung spricht nicht gerade für die Gerichtsqualität des Organs.
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Was die verfahrensrechtlichen Aspekte der Institution anbelangt, ist zu betonen, dass lediglich das Wahlprüfungsverfahren durch das Organgesetz über den Conseil constitutionnel formalisiert ist. Die Normenkontrollverfahren folgen manchen Regeln, die sich nur durch Bräuche und Gewohnheiten eingebürgert haben. Eine öffentliche Verhandlung findet in keinem Falle statt. Die Beratung ist geheim und Sondervoten sind verboten. Ein Ablehnungsverfahren wegen Befangenheit ist nicht vorgesehen.
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Der Conseil constitutionnel verfügt über Beratungskompetenzen einerseits, Entscheidungsbefugnisse andererseits. Als Beratungsinstanz greift der Conseil constitutionnel im Falle der in Art. 16 CF vorgesehenen Notstandserklärung ein. Bevor der Staatschef von Art. 16 CF Gebrauch macht, der die Gesamtheit der Legislativ- und Exekutivbefugnisse in seiner Person vereinigt, muss eine Stellungnahme des Conseil constitutionnel zur Verfassungsmäßigkeit einer solchen Erklärung eingeholt und veröffentlicht werden. Jede auf der Grundlage des Art. 16 CF ergriffene Maßnahme setzt eine weitere Stellungnahme des Conseil constitutionnel voraus, die jedoch unveröffentlicht bleibt. Eine Konsultativfunktion