Zivilprozessrecht. Irmgard Gleußner
steht, ist es im Prozessrecht die Prozesshandlung. Als Prozesshandlungen werden die Handlungen der Parteien bezeichnet, die dazu dienen, den Prozess zu beginnen, voranzutreiben, zu gestalten oder zu beenden.[1]
Beispiele
Mona erhebt Klage, die V-GmbH stellt den Antrag auf Klageabweisung, Mona stellt ein Fristverlängerungsgesuch, die V-GmbH erkennt den Anspruch von Mona an, Mona legt gegen das Urteil Berufung ein, die V-GmbH erhebt Widerklage.
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Einigkeit besteht, dass Prozesshandlungen grundsätzlich nach den Regeln des Prozessrechts bewertet werden.[2] Allerdings gibt es in der ZPO kein eigenes Kapitel zu „Prozesshandlungen“. Daher ist es Aufgabe der Gerichte, aus den verschiedenen Vorschriften der ZPO prozessuale Grundsätze herauszuarbeiten. Ein Rückgriff auf das BGB ist nur ausnahmsweise erlaubt. Prozesshandlungen sind jedenfalls der Auslegung zugänglich (§§ 133, 157 BGB analog), sofern die Erklärung nicht eindeutig ist.[3] Dabei ist der wirkliche Wille der Partei zu ermitteln. Das Gericht darf bei der Interpretation nicht an dem buchstäblichen Sinn der Erklärung der Partei verhaftet bleiben, sondern muss davon ausgehen, „dass die Partei das erreichen möchte, was ihrer recht verstandenen Interessenlage entspricht“.[4] Hier kann die richterliche Hinweispflicht (§ 139 ZPO) helfend eingreifen. Schließlich ist auch der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) zu beachten (z.B. Verbot widersprüchlichen Prozessverhaltens).[5]
Hinweis
Prägen Sie sich den Begriff der Prozesshandlung gut ein. (Fast) jede Aktion des Klägers oder des Beklagten im Prozess ist eine Prozesshandlung. Dieser Begriff gehört daher zum Basiswissen (wie der Begriff der Willenserklärung im materiellen Recht).
1. Bewirkungs- und Erwirkungshandlungen
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Üblicherweise werden die Prozesshandlungen zunächst nach ihrer Wirkung unterschieden. Es gibt Erwirkungshandlungen und Bewirkungshandlungen.[6] Bewirkungshandlungen ändern die prozessuale Lage unmittelbar (z.B. Anerkenntnis, Klagerücknahme). Erwirkungshandlungen benötigen noch ein Tätigwerden des Gerichts (z.B. Beweisantrag, damit das Gericht den Zeugen lädt). Bewirkungshandlungen sind nur in seltenen Fällen widerruflich. Erwirkungshandlungen sind dagegen grundsätzlich widerruflich (Rn. 173).
2. Wirksamkeit von Prozesshandlungen
a) Allgemeine Voraussetzungen
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Die Voraussetzungen bestimmen sich allein nach dem Prozessrecht. Es müssen die allgemeinen Prozesshandlungsvoraussetzungen vorliegen.[7] Diese sind Parteifähigkeit, Prozessfähigkeit, Postulationsfähigkeit (Anwaltsprozess § 78 ZPO), Formerfordernis sowie Wirksamwerden mit Zugang. Die meisten Prozesshandlungen bedürfen keiner Form. Prozesshandlungen können in der mündlichen Verhandlung durch mündliche Erklärung gegenüber dem Gericht erfolgen. Außerhalb der mündlichen Verhandlung werden Prozesshandlungen durch Einreichung eines Schriftsatzes vorgenommen. In einigen Fällen ist die schriftliche Einlegung ausdrücklich vorgeschrieben. Beispiele sind der Einspruch gegen ein Versäumnisurteil (§ 340 Abs. 1 ZPO), die Berufungseinlegung (§ 519 Abs. 1 ZPO) oder die Revisionsschrift (§ 549 Abs. 1 ZPO). Ab 2018 ist auch die elektronische Einreichung von Schriftsätzen erlaubt (§ 130a ZPO). In Einzelfällen kann die Prozesshandlung auch mündlich zu Protokoll der Geschäftsstelle erklärt werden (z.B. übereinstimmende Erledigungserklärung nach § 91a Abs. 1 ZPO). Adressat der meisten Prozesshandlungen ist das Gericht, so dass zur Wirksamkeit der Zugang bei Gericht (selten bei der gegnerischen Partei) erforderlich ist.
b) Bedingungsfeindlichkeit
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Prozesshandlungen sind anders als materielle Rechtsgeschäfte grundsätzlich bedingungsfeindlich. Sie dürfen daher nicht vom Eintritt einer Bedingung (§ 158 BGB) oder Befristung (§ 163 BGB) abhängig gemacht werden.[8] Mit den Interessen einer geordneten Rechtspflege wäre es kaum vereinbar, wenn Mona die Klagerücknahme „unter der Bedingung, dass mein Vater die Prozesskosten übernimmt“ erklären könnte. Dass derartige Handlungen unwirksam sind, leuchtet ein. Eine Ausnahme wird für sog. innerprozessuale Bedingungen gemacht.[9] Hier wird die Handlung von einem Ereignis abhängig gemacht, das unmittelbar im Prozess (vor den Augen des Richters) stattfindet. Das Ereignis kann eine bestimmte Entscheidung des Richters sein oder die Beurteilung einer dafür erheblichen Rechtsfrage. Zulässig sind daher sog. Hilfsanträge, die nur unter der Bedingung wirksam werden sollen, dass das Gericht den Hauptantrag abweist.[10] Denn dies betrifft Vorgänge im bestehenden Prozessrechtsverhältnis. Prozesshandlungen, die ein Prozessrechtsverhältnis erst begründen sollen, können nicht von einer Bedingung abhängig gemacht werden. Unzulässig ist demzufolge die bedingte Einlegung der Klage, der hilfsweise erklärte Parteiwechsel, die hilfsweise Klageerhebung gegen einen Dritten, die bedingte Einlegung eines Rechtsmittels, die bedingte Rücknahme eines Rechtsmittels oder der bedingte Parteibetritt zu einem selbstständigen Beweisverfahren.[11]
Beispiel
Mona verklagt die V-GmbH auf Kaufpreisrückzahlung wegen eines Mangels der Fliesen aufgrund Rücktritts (§§ 437 Nr. 2, 323, 346 BGB). Kommt der Richter nach einer Beweisaufnahme zu dem Schluss, dass der Mangel der gekauften Sache unerheblich ist, würde Mona den Prozess verlieren. Daher stellt Mona einen zweiten (Hilfs-)Antrag bei Gericht. Hilfsweise beantragt sie Minderung (§§ 437 Nr. 2, 441 BGB) für den Fall, dass das Gericht die Erheblichkeit des Mangels verneint. Hier werden zwei Anträge so miteinander verbunden, dass über den zweiten nur entschieden werden soll, wenn der erste nicht erfolgreich ist. Das ist zulässig, da es sich um eine innerprozessuale Bedingung handelt. Das Gericht hat den Eintritt der Bedingung „selbst in der Hand“. Die Hemmung der Verjährung (§ 204 Abs. 1 BGB) erstreckt sich auch auf den Hilfsantrag.[12]
c) Willensmängel
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Umstritten ist, ob Prozesshandlungen nach den Vorschriften des BGB (§§ 119, 123 BGB analog) wegen Irrtums oder arglistiger Täuschung angefochten werden können. Die h.M. lehnt dies aus Gründen der Rechtssicherheit ab und leitet die Rechtsfolgen allein aus dem Prozessrecht ab.[13] Das Prozessrecht (die ZPO) erlaubt in bestimmten Fällen, eine Prozesshandlung durch Widerruf oder Rücknahme zu beseitigen. So existieren für das Geständnis (§ 290 ZPO) und die Klagerücknahme (§ 269 Abs. 1 ZPO) spezielle Regelungen. In den übrigen Fällen der Bewirkungshandlungen (z.B. Anerkenntnis) gilt daher, dass ein Widerruf grundsätzlich nicht möglich ist,[14]es sei denn, es liegt ein Restitutionsgrund (§ 580 ZPO) vor.[15] Ausnahmen macht die Rechtsprechung außerdem für die sog. Erwirkungshandlungen, die noch ein Tätigwerden des Gerichts erfordern und demgemäß nur „mittelbar“ auf den Prozess einwirken. So sind Erwirkungshandlungen grundsätzlich widerruflich (z.B. Antrag auf Vernehmung eines Zeugen, einseitige Erledigungserklärung), solange keine geschützte Position der Gegenseite entstanden ist.[16]
d) Besonderheiten für Prozessverträge
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Eine weitere Ausnahme gilt für sog. Prozessverträge (z.B. Gerichtsstandsvereinbarungen, Verträge über eine Klagerücknahme). Anders als bei einseitigen Prozesshandlungen gelten bei zweiseitigen Prozessverträgen auch die allgemeinen Regelungen des Vertragsrechts. Prozessverträge sind daher grundsätzlich nicht bedingungs- und befristungsfeindlich (§§ 158, 163 BGB) und können analog §§ 119, 123 BGB angefochten werden.[17] Gleiches gilt für Verträge, die sowohl materiell-rechtliche als auch prozessrechtliche Wirkung haben (z.B. Prozessvergleiche).
3. Rechtzeitigkeit von Prozesshandlungen
a) Versäumung