Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen. Matthias Jahn
1. Relevantes Handeln und Unterlassen der öffentlichen Gewalt
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Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung ist es in umfangreichen Strafverfahren oft nicht leicht, aber praktisch besonders wichtig, den Verfahrensgegenstand oder die Verfahrensgegenstände exakt herauszuarbeiten. An dieser zentralen Vorfrage hängen viele Folgefragen, etwa, welche Entscheidungen den Mandanten tatsächlich noch (oder schon) beschweren, welche Fristen (noch) offen sind und welche Rechtsbehelfe noch (oder leider nicht mehr) auszuschöpfen sind. Denkbar sind unter anderem folgende Konstellationen: Angriffsobjekt sind ein oder mehrere Urteile oder Gerichtsbeschlüsse (Urteilsverfassungsbeschwerde), eine gesetzliche Vorschrift (zumeist mittelbar im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde, sog. Rechtssatzverfassungsbeschwerde), oder die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen einen Akt der Exekutive. Ein kombinierter Angriff kann sich z. B. als Folge einer fachgerichtlich bestätigten Entscheidung der Exekutive ergeben, welche auf einem auf verfassungswidrigem Gesetz beruht. Andere Rechtsschutzziele, wie die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen, die Stellung von Strafanträgen und Ähnliches können im Wege der Verfassungsbeschwerde nicht verfolgt werden.
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Angriffsgegenstand im Verfassungsbeschwerdeverfahren sind nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 Abs. 1 BVerfGG alle Handlungen und Unterlassungen der öffentlichen Gewalt. Als Folge der umfassenden Bindung aller Staatsgewalt an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) ist der Begriff anders als im Rahmen der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG hier weit zu verstehen. Ihm unterfallen in st. Rspr.[1] nicht nur Maßnahmen der Exekutive, sondern auch Akte der Rechtsprechung – was bei Art. 19 Abs. 4 in jüngerer Zeit zu Recht bestritten wird („Rechtsschutz durch den Richter gegen den Richter“[2]) – und der Legislative.[3] Das Gericht kann die Verfassungswidrigkeit des Aktes feststellen, ein Gesetz für nichtig erklären oder eine verfassungswidrige Entscheidung aufheben und die Sache an ein zuständiges Gericht zurückverweisen (§ 95 BVerfGG).
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Ein Unterlassen der Exekutive und der Rechtsprechung ist nur dann verfassungswidrig und mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar, wenn ein unmittelbarer grundgesetzlicher Entscheidungszwang i.S.e. einer determinierten Handlungspflicht etwa aus staatlicher Schutzpflicht besteht. Erfasst sind nur Konstellationen sog. „echten Unterlassens“, wenn die öffentliche Gewalt also gänzlich untätig bleibt und sich der Beschwerdeführer auf einen konkreten verfassungsrechtlichen Handlungsauftrag berufen kann. Das ist selten. Dieser ist für die Rechtsprechung in Art. 19 Abs. 4 GG eigens angeordnet, wenn das Gericht in angemessener Frist vollständig untätig bleibt.[4] Für die Exekutive wird ein solches Gebot aus Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG hergeleitet. Fälle gesetzgeberischen Unterlassens werden hingegen kontrovers diskutiert.
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Sollte ausnahmsweise eine Verfassungsbeschwerde gegen Unterlassungen in Betracht kommen, ist diese zeitlich zulässig, solange die Unterlassung fortdauert.[5]
a) Maßnahmen zwischenstaatlicher Einrichtungen, der Europäischen Union und anderer Staaten
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Gegenstand der Verfassungsbeschwerde i.S.d. § 90 Abs. 1 BVerfGG sind nach gefestigter Rspr. des Gerichts[6] nur Maßnahmen der deutschen öffentlichen Gewalt, die unmittelbar an die Vorschriften des Grundgesetzes gebunden ist und innerstaatliche Wirkung erzeugt.
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In Strafsachen werden die durch diesen Grundsatz entstehenden Grenzfälle schwerlich einmal Bedeutung erlangen. Maßnahmen zwischenstaatlicher Einrichtungen wie des Rates oder der EU-Kommission oder der NATO sind daher keine Akte der deutschen öffentlichen Gewalt.[7] Ebenfalls unzulässig sind Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen Normen des sekundären Gemeinschaftsrechts.[8] Das Gericht nimmt eine Prüfung von Gemeinschaftsrecht am Maßstab des Grundgesetzes solange grds. nicht vor, wie der verfassungsgerichtlich vorausgesetzte Grundrechtsschutz gewährleistet ist (Solange-Rspr.[9]). Gemeinschaftsakte sind nach den Leitlinien der Maastricht- und Lissabon-Entscheidungen des BVerfG[10] nur dann überprüfbar, wenn hinreichend substantiiert dargelegt ist, dass das europäische Recht den als unabdingbar anzusehenden Grundrechtsschutz generell[11] verfehlt. Ein mit der Verfassungsbeschwerde angreifbarer Akt deutscher öffentlicher Gewalt liegt allerdings dann vor, wenn der Beschwerdeführer geltend machen kann, in der Art und Weise des Vollzugs liege eine selbstständige Verletzung seiner Grundrechte. Auch ist für die Übertragung von Hoheitsrechten an die EU (Art. 23 Abs. 1 S. 2, Art. 24 Abs. 1 GG) innerstaatlich ein Gesetz erforderlich. Es kann als Akt deutscher öffentlicher Gewalt mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden, ebenso darauf beruhende nationale Vollzugs- und Ausführungsakte.[12]
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Maßnahmen ausländischer Staaten sind prima vista nicht der deutschen öffentlichen Gewalt zuzuordnen und deshalb nicht mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar. Das ist angesichts der wachsenden Bedeutung des Rechtshilferechts nur auf den ersten Blick richtig; man denke nur an die Fälle deutscher Ersuchen an ausländische Behörden und die Verwertung aus dem Ausland erlangter Erkenntnisse im hiesigen Strafverfahren.[13] Maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Verfassungsbeschwerde ist hier stets das Handeln oder (qualifizierte) Unterlassen des deutschen Hoheitsträgers, also das Stellen des Rechtshilfeersuchens, das Unterlassen des Hinwirkens auf ein rechtsstaatliches Vorgehen des ausländischen Hoheitsträgers oder die Verwertung bemakelter Erkenntnisse durch ein deutsches Gericht.
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Wird eine bundesdeutsche Stelle umgekehrt aufgrund eines ausländischen Hoheitsaktes – bspw. eines dortigen Rechtshilfeersuchens – tätig, handelt sie in Ausübung deutscher öffentlicher Gewalt mit der Folge, dass Verfassungsbeschwerde erhoben werden kann. Das BVerfG[14] nimmt speziell im Rahmen von Auslieferungsentscheidungen auch eine Kontrolle des ausländischen Strafurteils auf die Einhaltung des nach Art. 25 GG, vom verfassungsfesten Grundsatz der Menschenwürde vorgezeichneten verbindlichen menschenrechtlichen Mindeststandards (Art. 79 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) und des unverzichtbaren ordre public-Standards vor.
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Seit Ende des Jahres 2015 ist auf Grundlage des Senatsbeschlusses zu einer Auslieferung zur Vollstreckung eines italienischen Abwesenheitsurteils auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls allerdings eine gewisse Ausdehnung der Kontrolldichte erkennbar. Ob diese Entwicklung bereits als „Solange III“-Rechtsprechungslinie zu kennzeichnen ist, wird im Schrifttum lebhaft diskutiert, ist aber im vorliegenden, praktisch orientierten Zusammenhang nicht entscheidend. Das Gericht prüft in der Sache nunmehr auch nach, ob andere Staaten diesen Mindeststandards grds. gerecht werden. Dabei beschränkt sich die Untersuchung nicht nur auf die abstrakte Funktionsfähigkeit von Schutzmechanismen der fremden Rechtsordnung,[15] sondern erfasst auch die konkrete Kontrolle der zu Grunde liegenden inhaltlichen Erwägungen.[16] Ob sich diese Rechtsprechungslinie im europäischen Kontext dauerhaft durchsetzen können wird, ist offen. Insbesondere steht ihrer potentiell systemsprengenden Kraft der effet-utile-Grundsatz entgegen. Das Gericht betont allerdings auch in einem etwas dunklen Satz, dass sich die strengen Voraussetzungen für eine Aktivierung der Identitätskontrolle