Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen. Matthias Jahn
an Verfassungsbeschwerden niederschlage: „Es muss im Einzelnen substantiiert dargelegt werden, inwieweit im konkreten Fall die durch Art. 1 GG geschützte Garantie der Menschenwürde verletzt ist“[17]. Zu der Frage, was das im Einzelnen bedeutet, gibt der Senat allerdings keine verallgemeinerungsfähigen Fingerzeige.[18]
b) Handeln von Privatpersonen
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Im Strafverfahren kann es in vielfältiger Weise zu Situationen kommen, in denen Private an Stelle der oder in Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden handeln. Hier wird in der Praxis die Frage gestellt werden, inwiefern solche Maßnahmen dem Staat zurechenbar sind, da andernfalls kein mit der Verfassungsbeschwerde angreifbarer Akt hoheitlicher Gewalt im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG vorliege.
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An erster Stelle zu nennen ist der Einsatz von V-Leuten in behördlichem Auftrag sowie die Inanspruchnahme Privater als Informanten der Strafverfolgungsbehörden.[19] Sind Private darüber hinaus förmlich bestellt, bei einer Behörde oder bei einer sonstigen Stelle oder in deren Auftrag Aufgaben der öffentlichen Verwaltung unbeschadet der zur Aufgabenerfüllung gewählten Organisationsform wahrzunehmen, gelten sie gem. § 11 Abs. 1 Nr. 2 lit. c StGB als Amtsträger. Diese einfachrechtliche Wertung mag auch auf die verfassungsrechtliche Zurechnung ausstrahlen. Der Staat soll sich generell dort, wo es hoheitliche Aufgaben zu erfüllen gilt, nicht durch „Zwischenschaltung“ von Privaten seinen öffentlichen Pflichten entziehen können; man denke nur an die mittlerweile praktizierten Ansätze zur Privatisierung des Strafvollzugs oder der Bewährungshilfe, aber auch Fragen des Transfers der internen Compliance-Erhebungen von Unternehmensanwälten in das staatliche Strafverfahren.[20] Bedient sich eine Behörde bewusst und zielgerichtet solcher Hilfe von Privatleuten, kann eine Zurechnung die Folge dann sein, wenn gegenüber dem Beschuldigten ein „besonderes Gewaltverhältnis“ bestand oder den Staat aus sonstigen Gründen eine besondere Fürsorgepflicht trifft. Die Einzelheiten sind sämtlich im Streit.[21]
Teil 2 Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde in Strafsachen › B. Der Beschwerdegegenstand › II. Akte der vollziehenden Gewalt
II. Akte der vollziehenden Gewalt
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Das BVerfG[22] hält Maßnahmen der Exekutive nur dann für beschwerdefähig, wenn ihnen Entscheidungs- oder Regelungsgehalt und Außenwirkung zukommt. Diese partielle Anbindung an die Merkmale des Verwaltungsaktsbegriffs (§ 35 VwVfG) ist hergebracht, aber nicht unproblematisch. Zu diesen Maßnahmen zählen im Strafprozess insbesondere Handlungen und Unterlassungen der Strafverfolgungs- und Strafvollstreckungsbehörden. Als Angriffsgegenstand kommen sowohl Verwaltungsakte als auch schlicht hoheitliches Handeln, wie es bei Prozesshandlungen der Strafverfolgungsbehörden meist vorliegt, in Betracht. Die Staatsanwaltschaft wird zwar u. a. von Nr. 1 S. 2 RiStBV als Organ der Rechtspflege eingeordnet, gehört jedoch nach ganz h. M. nicht zu deren Kernbereich. Der Begriff der Rechtspflege ist also weiter zu verstehen als derjenige der Rechtsprechung i. S. d. Art. 92 GG. Somit zählen auch Akte der Staatsanwaltschaft als Strafverfolgungsbehörde nicht zu den Rechtsprechungsakten, sondern zu den Exekutivmaßnahmen.[23]
1. Anträge der Staatsanwaltschaft an die Gerichte
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Bloße Anträge der Staatsanwaltschaft an das Gericht, etwa zur Durchführung von Ermittlungshandlungen (§ 162 StPO) oder in Haftsachen (§ 125 StPO), sind allerdings rein interne Vorgänge des Verfahrens. Sie können erst dann zu einer Grundrechtsverletzung führen, wenn ihnen der Richter stattgibt; bis dahin fehlt es noch am Rechtsschutzbedürfnis.[24] Dasselbe gilt für Akte der Staatsanwaltschaft in dem die Urteilsfindung vorbereitenden Verfahren, insbesondere im Revisionsverfahren für den Antrag an das Revisionsgericht, nach § 349 Abs. 2 StPO zu entscheiden. Der Senat ist weder an den Antrag auf Entscheidung im Beschlusswege selbst (vgl. § 349 Abs. 2 StPO: „kann“) noch an die Begründung der Antragsschrift der Staatsanwaltschaft gebunden.[25] Eine im Vorfeld der (erwarteten) Entscheidung eingelegte Verfassungsbeschwerde ist also auch hier unzulässig.
2. Maßnahmen der Staatsanwaltschaft im Ermittlungs- und Vollstreckungsverfahren
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Im strafrechtlichen Vorverfahren werden Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt und bereits verfahrensrelevante Entscheidungen getroffen. Ermittlungsrichterliche Maßnahmen können bei Gefahr im Verzug in der Regel auch von der Staatsanwaltschaft und teilweise von deren Ermittlungspersonen (§ 152 GVG) getroffen werden. Es handelt sich hierbei häufig um Zwischenentscheidungen, welche grds. keinen selbstständigen Angriffsgegenstand für die Verfassungsbeschwerde bilden, soweit sie der fachgerichtlichen Kontrolle unterliegen und gemeinsam mit dem tatrichterlichen Urteil angefochten werden können. Die Einzelheiten werden im jeweiligen Sachzusammenhang dargestellt.[26] Nicht zum Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde gemacht werden kann die Verweigerung der Aussetzung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft; die Diskussion um den Rechtsschutz gegen das Ermittlungsverfahren als solches ist zumindest in Bewegung geraten.[27]
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Soweit die Vollstreckungsbehörde (Staatsanwaltschaft bzw. Rechtspfleger oder Gericht, etwa in Jugendstrafsachen) bei der Durchführung des Vollstreckungsverfahrens selbst im Rahmen ihrer eigenen Entscheidungsbefugnis neue Grundrechtsverletzungen verursachen kann, sind Verfassungsbeschwerden auch gegen Vollstreckungsakte zulässig.[28] Beispiele finden sich in der Rechtsprechung des BVerfG zuhauf. Dazu gehören etwa die Überwachung und Beanstandung von Briefen Strafgefangener,[29] die Weigerung der Anstaltsleitung, die Verwertung von Kleidungsstücken eines Sicherungsverwahrten zu ermöglichen,[30] die Ablehnung eines Gesuchs auf bedingte Entlassung aus der Strafhaft,[31] Restriktionen bei der Benutzung von Rundfunkgeräten[32] oder Nichtgewährung des Bezuges von Zeitungen und Zeitschriften.[33]
3. Gnadenentscheidungen
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Nur im Schrifttum und in einzelnen Dissentings[34] wird wegen Art. 19 Abs. 4 GG seit je – und mit Recht – bezweifelt, dass der Bundespräsident (Art. 60 Abs. 2 GG) bzw. die Ministerpräsidenten der Länder bei Gnadenentscheidungen nicht in justiziabler Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von § 90 Abs. 1 BVerfGG handeln. Nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG[35] ergeht aber insoweit „Gnade vor Recht“, weswegen keine (verfassungsgerichtliche) Kontrollmöglichkeit eröffnet sein soll. Dagegen soll der Widerruf von Gnadenentscheidungen in engen Grenzen justiziabel sein.[36]
4. Verwaltungsvorschriften
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Verwaltungsvorschriften hatten und haben in einigen Teilen des Straf- und Strafverfahrensrechts für die Rechtsanwendung eine wichtige Bedeutung. Dies betraf vornehmlich die zum StVollzG des Bundes erlassenen (gem. Art. 125a GG mittlerweile durch die Föderalismusreform I in Zurückdrängung begriffenen) Vorschriften,[37] aber auch die Anlage D zu den RiStBV (Informationsbeschaffung durch verdeckt ermittelnde Polizeibeamte und V-Leute sowie Geheimhaltung) und das frühere Ausländerrecht (AuslG-VwV, jetzt AufenthG-AVwV).[38]
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