Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen. Matthias Jahn
das BVerfG lange Zeit[39] die Anfechtbarkeit von Verwaltungsvorschriften grds. verneint. Es handele sich um die Gerichte nicht bindende Verwaltungsinterna, die den Beschwerdeführer nicht beträfen, weil sie unmittelbare Verbindlichkeit nur im Innenverhältnis zwischen vorgesetzter und nachgeordneter Behörde entfalteten. Rechtliche Auswirkungen erlangten sie erst, wenn eine Behörde im Einzelfall nach ihnen verfahre. Später[40] hat das Gericht seine Rechtsprechung aber dahingehend relativiert, als auch Verwaltungsvorschriften tauglicher Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein können, wenn ihnen kraft ihrer gesetzlich intendierten Funktion – sei es auch nur in Folge der Selbstbindung der Verwaltung (Art. 3 Abs. 1 GG) – Bindungswirkung gegenüber dem betroffenen Bürger zukomme. Dies im Einzelnen darzulegen kann, ungeachtet des Satzes iura novit curia, in der Praxis gerade Aufgabe der Verfassungsbeschwerdeschrift sein.[41]
Teil 2 Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde in Strafsachen › B. Der Beschwerdegegenstand › III. Akte der Gesetzgebung
1. Erlassene Gesetze
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Mit der Verfassungsbeschwerde können Maßnahmen des Gesetzgebers für das Straf- und Strafprozessrecht angegriffen werden. Dies gilt sowohl für den mittelbaren Angriff im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde als auch für die – seltenere – unmittelbare Rüge, siehe §§ 93 Abs. 2, 94 Abs. 4, 95 Abs. 3 BVerfGG. Die Einlegung unmittelbarer Rechtssatzverfassungsbeschwerden begegnet im Hinblick auf den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) und die Fristproblematik häufig erheblichen praktischen Durchsetzungsproblemen.[42]
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Das BVerfG legt den Gesetzesbegriff weit aus. Erfasst sind nicht nur formelle Parlamentsgesetze, sondern auch Gesetze im materiellen Sinne wie Satzungen des Bundes und der Länder[43] sowie Rechtsverordnungen[44] – letztere in Strafsachen wegen Art. 103 Abs. 2 GG freilich weniger relevant. Keinen mit der Verfassungsbeschwerde angreifbaren Rechtsakt stellt auch Gewohnheitsrecht dar. Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde schließlich gegen ein Gesetz, welches durch ein Urteil des BVerfG bereits für gültig erklärt worden ist.[45]
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Hinweis
Bei einer Vielzahl von Verfahren gegen ein Gesetz, von dem maßgebliche Teile der Bevölkerung betroffen sind („Massenverfahren“),[46] wählt das Gericht typischerweise eine Reihe repräsentativer Beschwerden aus. Denkbar ist ein solches Vorgehen insbesondere dann, wenn nicht klar ist, ob ein bestimmtes Handeln strafbar ist. Zu denken ist bspw. an die Diskussion zur Frage aktiver Sterbehilfe, die Debatte zum Schwangerschaftsabbruch oder bestimmte Formen des Cybercrime. Das hat einige wichtige praktische Konsequenzen. Bei den durch die spätere Entscheidung in den ausgewählten Verfahren gegenstandslos gewordenen Verfassungsbeschwerden ist nach der Spruchpraxis vom Grundsatz des Selbstbehalts der Auslagen keine Ausnahme zu machen und gem. § 34a Abs. 3 BVerfGG die Auslagenerstattung nicht anzuordnen.[47] Sollte(n) dennoch mehrere Beschwerdeführer dem Rechtsanwalt ein Mandat für eine Gesetzesverfassungsbeschwerde antragen, so empfiehlt es sich, entsprechend der Praxis des Gerichts schon im Vorfeld einige wenige Musterverfahren auszuwählen, denn das Gericht prüft auch bei gemeinsamer Erhebung der Verfassungsbeschwerde jede einzelne auf ihre Zulässigkeit und Begründetheit. Will der Anwalt vermeiden, unter Umständen in mehreren Verfahren Missbrauchsgebühren nach § 34 Abs. 2 BVerfGG auferlegt zu bekommen, sollte er sich daher diejenigen Beschwerdeführer auswählen, bei denen die verfassungsrechtlichen Fragen und die Grundrechtsproblematik besonders deutlich zu Tage treten; insbesondere sollte die fachgerichtliche Verfahrensführung keine Mängel aufweisen und Sachverhalt sowie einfachrechtliche Rechtslage umfassend geklärt sein. Unbenommen bleibt es freilich, in der Beschwerdeschrift das Gericht darauf aufmerksam zu machen, dass mehrere Personen mit ähnlicher Ausgangssituation hinter dem Anliegen stehen.
2. Gesetzgeberisches Unterlassen
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Die Frage der Rügefähigkeit gesetzgeberischen Unterlassens wird in der Literatur[48] kontrovers beurteilt. Bedenken werden vor allem im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung erhoben. Aus der Rechtsprechung des Gerichts ergibt sich Folgendes: Der einzelne Staatsbürger hat grds. keinen mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbaren Anspruch auf ein bestimmtes Handeln des Gesetzgebers. Deshalb hat das BVerfG in frühen Entscheidungen[49] die Anfechtbarkeit gesetzgeberischen Unterlassens verneint.
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Andererseits machen einfach-rechtliche Vorschriften wie die §§ 92, 95 Abs. 1 BVerfGG deutlich, dass nach den Vorstellungen des Gesetzgebers auch ein Unterlassen der öffentlichen Gewalt Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sein kann. Infolgedessen hat das Gericht die Rügbarkeit gesetzgeberischen Unterlassens in Ausnahmefällen, begrenzt auf Fälle des sog. „echten Unterlassens“ anerkannt. Der Gesetzgeber muss trotz eines ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Gesetzgebungsauftrages, der Inhalt und Umfang der Gesetzgebungspflicht im Wesentlichen umgrenzt, gänzlich untätig geblieben sein.[50] Ausdrückliche Aufträge in diesem Sinne enthalten, insoweit in strafrechtlichem Zusammenhang wenig ergiebig, jedenfalls Art. 6 Abs. 5 GG und Art. 12a Abs. 2 S. 3 GG.[51] In späteren Entscheidungen – u. a. im Ersten Abtreibungsurteil und im Zusammenhang mit dem Entführungsfall Schleyer – hat das Gericht darüber hinaus individuelle Rechte auf ein Tätigwerden des Gesetzgebers zur Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten anerkannt.[52] Sie geböten dem Staat, Rechtsgüter der Grundrechtsträger vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren. Da das menschliche Leben einen Höchstwert darstelle, muss diese Schutzverpflichtung besonders ernst genommen werden. Letztlich beruht auch die Schaffung des Anhörungsrügengesetzes[53] vom 9.12.2004 auf einer vom Plenum des BVerfG[54] angenommenen Verpflichtung des Gesetzgebers, wegen der grundgesetzlichen Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und im Hinblick auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde bei entscheidungserheblichen Verstößen eines Gerichts gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör eine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit bereitzustellen. Besonders hohe Anforderungen werden vom Gericht indes an die Substantiierung bei der Rüge der Verfassungswidrigkeit gesetzgeberischen Unterlassens gestellt. Es muss in der Beschwerdeschrift eine Evidenz dafür aufgezeigt werden, dass die Rechtslage untragbar geworden ist und der Gesetzgeber gleichwohl untätig geblieben ist oder offensichtlich fehlsame Nachbesserungsmaßnahmen getroffen hat.[55]Eine tatsächlich erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen ein gesetzgeberisches Unterlassen ist daher in absehbarer Zeit kaum zu erwarten.[56]
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Problematisch kann darüber hinaus im Einzelfall sein, inwieweit der Gesetzgeber zur Nachbesserung unzureichender Schutzmaßnahmen nach Ablauf der Frist des § 93 Abs. 3 BVerfGG gezwungen werden kann. Das Gericht hat die Zulässigkeit solcher Verfassungsbeschwerden bislang offen gelassen.[57]
Teil 2 Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde in Strafsachen › B. Der Beschwerdegegenstand › IV. Maßnahmen der Gerichte und des Richters
IV. Maßnahmen der Gerichte und des Richters
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Die „klassische“ Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile ist der in der Praxis mit Abstand am häufigsten erhobene Rechtsbehelf;[58] Jestaedt[59] spricht in der