Einführung in die Praxis der Strafverteidigung. Olaf Klemke
massenhaft vorsätzlich Unschuldige verfolgt. Dies wird wohl niemand ernsthaft in Betracht ziehen.
aa) Verteidiger als Garant für ein faires, rechtsstaatliches Verfahren
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Es kommt auch gar nicht darauf an, ob der einzelne Mandant schuldig ist oder nicht. Die verfahrensrechtliche Aufgabe besteht zwar auch, aber nicht in erster Linie darin, Unschuldige vor ungerechtfertigter Verurteilung und Bestrafung zu bewahren. Der Verteidiger ist als einseitiger, streng parteilicher Beistand des Beschuldigten eine verfahrensrechtliche Gegenmacht zu dem das Strafverfahren betreibenden Staat. Seine vordringlichste Aufgabe ist zunächst, dafür Sorge zu tragen, dass sowohl die Verfahrensrechte des Mandanten gewahrt als auch die sonstigen verfahrensrechtlichen Normen peinlichst genau beachtet werden. Denn nur die Einhaltung der formellen Sicherungen ist der Garant für ein faires, rechtsstaatliches Verfahren und damit für die Schaffung einer zutreffenden Urteilsgrundlage. Die verfahrensrechtlichen Regelungen sind nicht Selbstzweck. Vielmehr dienen sie dazu, die Verurteilung eines Unschuldigen zu verhindern und ein gerechtes Urteil zu fällen. Nur ein Urteil, welches auf Grund eines fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens ergangen ist, kann daher ein richtiges, ein gerechtes Urteil sein.
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Dies gerät jedoch zusehends mehr und mehr in Vergessenheit. Die Formerfordernisse der Strafprozessordnung werden von vielen, vielleicht sogar von den meisten, Strafrichtern geringschätzig als bloße „Förmeleien“ betrachtet. Verteidiger, die zum Schutze der Rechte ihrer Mandanten auf der Einhaltung der Verfahrensvorschriften bestehen, werden von diesen Richtern als Querulanten angesehen; oder man wirft ihnen vor, mit angeblicher „Konfliktverteidigung“ die Strafrechtspflege zu sabotieren.
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Dies findet nicht zuletzt seinen Ausdruck in der Rspr. der Revisionsgerichte. Sie ebnet seit jeher tendenziell die Formerfordernisse ein, indem sie bspw. prozessuale Normen zu bloßen „Ordnungsvorschriften“ herunter definiert, um von ihr im Ergebnis für richtig gehaltene Urteile trotz des Vorliegens von Verfahrensfehlern aufrechterhalten zu können.[21] Oder sie lässt Verfahrensrügen kurzerhand an dem sog. „Beruhenszusammenhang“ scheitern, obgleich mit guten Gründen auch eine gegenteilige, jedoch nicht gewollte, Entscheidung möglich wäre. Weiter zu erwähnen ist die von den Revisionsgerichten kreierte Kunst, die formelle Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls wegen angeblicher Lücken und Widersprüche auszuhebeln, um dann der Verfahrensrüge im Freibeweisverfahren mittels des angeblich für Verfahrensfehler nicht geltenden Zweifelssatzes den Garaus zu machen.[22] Die Rspr. lässt nunmehr sogar die Berichtigung des Protokolls der Hauptverhandlung auch in solchen Fällen zu, in denen diese einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge des Angeklagten nachträglich die Tatsachengrundlage entzieht („Rügeverkümmerung“).[23] Da verwundert es nicht, dass die Zahl der aufgrund einer Verfahrensrüge erfolgreichen Revisionen ständig abnimmt. Gelegentlich wird davon gesprochen, die Rechtsprechung etabliere eine „Diktatur des materiellen Rechts“. Es ist zu hoffen, dass sich die Rechtsprechung wieder dem Sinn und der Bedeutung der verfahrensrechtlichen Formerfordernisse öffnet, eingedenk des folgenden Zitats Rudolf von Jherings:
„Die Blütezeit der Freiheit ist zugleich die Periode der peinlichsten Strenge in der Form. Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit. Feste Formen – sie lassen sich nur brechen, nicht biegen – und wo ein Volk sich wahrhaft auf den Dienst der Freiheit verstand, da hat es instinktiv auch den Wert der Form herausgefühlt und geahnt, dass es in seinen Formen nicht etwas rein Äußerliches besitze und festhalte, sondern das Palladium seiner Freiheit.“[24]
Der Verteidiger kann im Interesse seines Mandanten nicht zuwarten, bis die Rechtsprechung den Wert der Formenstrenge hoffentlich wiedererkennt. Er hat vielmehr gegen jede Verletzung von Verfahrensvorschriften mit den ihm von der Strafprozessordnung zur Verfügung gestellten Mitteln einzuschreiten und so in jeder Hauptverhandlung aufs Neue für ein faires, rechtsstaatliches Verfahren zu kämpfen.
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Sollte das Eintreten des Verteidigers für die Einhaltung der den Angeklagten schützenden Formen dazu führen, dass der Schuldnachweis nicht geführt werden kann und der schuldige Angeklagte freizusprechen ist, sollte dies das Selbstverständnis des Verteidigers nicht erschüttern. Das Gesetz selbst geht davon aus, dass auch der schuldige Angeklagte nur in der von ihm vorgegebenen Verfahrensweise abgeurteilt werden darf.
bb) Der Verteidiger als streng parteilicher Beistand und der Zweifelssatz
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Neben seiner Verpflichtung, die Einhaltung der für ein faires, rechtsstaatliches Verfahren erforderlichen Formerfordernisse zu kontrollieren und gegebenenfalls konsequent einzufordern, hat der Verteidiger alle Umstände geltend zu machen, die Zweifel an der Schuld des Angeklagten begründen. Hegt das Gericht berechtigte Zweifel an der Schuld des Angeklagten, verlangt das im Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes verankerte Schuldprinzip, ihn freizusprechen. Der Verteidiger hat die nach der Beweisaufnahme noch bestehenden Zweifel an der Schuld des Angeklagten auch dann hervorzuheben, wenn er persönlich weiß oder davon ausgeht, dass sein Mandant schuldig ist. Dies verlangt die dem Verteidiger zugewiesene Beistandsfunktion von ihm, nach welcher er streng parteilich ausschließlich die zu Gunsten des Beschuldigten sprechenden Umstände in das Verfahren einzuführen hat.[25]
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Weist der Verteidiger auf Zweifel an der – ihm intern bekannten – Schuld seines Mandanten hin und wird dieser freigesprochen, ist dies für ihn kein Grund, seine Rolle im Strafverfahren in Zweifel zu ziehen. Denn er hat nichts anderes getan, als dabei mitzuhelfen, dem Recht Genüge zu tun. Dieses fordert bei nicht behebbaren Zweifeln an der Schuld des Angeklagten den Freispruch. Das eventuelle persönliche Wissen des Verteidigers von der Schuld seines Mandanten ist wegen seiner Verpflichtung zur Verschwiegenheit nicht Gegenstand der Hauptverhandlung. Es steht außerhalb des Prozesses.[26]
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Dies gilt auch für die Verteidigung im Jugendstrafverfahren. Der sog. „Erziehungsgedanke“ des Jugendstrafrechts wird von den „staatlichen Erziehungsträgern“ als trojanisches Pferd verstanden, mit denen die Fesseln der beschuldigtenschützenden Formen des Strafprozesses abgeworfen werden sollen. Die Verfahrensbeteiligten (einschließlich des Verteidigers) sollen in harmonischer Eintracht am Jugendlichen herum erziehen. Derjenige Verteidiger, der auf Einhaltung der schützenden Formen der Strafprozessordnung besteht, wird als „Fremdkörper“ oder als „Störenfried“ angesehen, der die sonst einvernehmliche staatliche Erziehungsveranstaltung „sprengt“. Nach wie vor gilt jedoch: auch Jugendstrafrecht ist und bleibt Strafrecht. Es besteht daher kein Anlass für den Verteidiger, eine „Strafverteidigung light“ zu fahren und Beihilfe zum staatlichen Erziehungsunterricht zu leisten. Alles andere wäre Verrat am jugendlichen Mandanten.
cc) Fazit
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Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass es für den Verteidiger grundsätzlich unbeachtlich sein muss, ob er einen Angeklagten verteidigt, den er für schuldig oder aber für unschuldig hält. Dahs sieht dies anders. Er meint, es sei für den Anwalt,
„der auf seine Reputation hält, … ein recht schwieriger Entschluss, wider besseres Wissen zu verteidigen und die Freisprechung eines Schuldigen herbeizuführen. Er wird häufig nicht bereit sein, sich einer solchen Zumutung eines Delinquenten, der das Gericht belügt, zu beugen.“[27]
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Dieser Ansicht ist entgegenzutreten. Der Strafverteidiger darf sowohl bei der Frage der Übernahme eines Mandates als auch bei derjenigen, welche Verteidigungsstrategie er wählt, nicht moralisch-ethische Maßstäbe anlegen, sondern ausschließlich rechtliche.