Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
Landsberg schreibt zu Unrecht, dass der Inhalt der Reformvorschläge mehr oder weniger identisch gewesen sei.[211] Wie zuletzt Christoph Luther im Detail dargelegt hat, brachte die Debatte um die Strafrechtsreform „keine einheitlichen Lehren hervor – im Gegenteil: Vermutlich war die Bandbreite rechtlicher Lehren niemals größer als im späten 18. Jahrhundert. In dieser Epoche kollidierte das traditionelle Rechtsverständnis mit den Lehren einer neuen, autonomen Vernunft. Sie brachte unterschiedliche Menschenbilder hervor, mit denen unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen korrespondierten. Die Aufklärung hat deshalb kein einheitliches Rechtsdenken hervorgebracht, sondern eine Mehrzahl konkurrierender Denkstile.“[212] Einig war man sich allenfalls in der Ablehnung der überkommenen religiös durchtränkten, willkürlichen und grausamen Strafrechtspraxis, die durch ein besseres Kriminalsystem ersetzt werden sollte.
122
Als wichtiger Vermittler zwischen den rechtspolitischen Forderungen der Zeit und der preußischen Gesetzgebung wirkte Ernst Ferdinand Klein (1743–1810),[213] der Hauptverfasser der strafrechtlichen Teile des preußischen Allgemeinen Landrechts (1794). Darin wurden, zum ersten Mal in der deutschen Strafgesetzgebung, neben Strafen auch Sicherungsmaßregeln vorgesehen, und damit das heutige zweispurige System vorweggenommen. Kleins Straftheorie setzt auf Spezial- und Generalprävention gleichermaßen.
123
Eine besonders enge Verbindung zwischen Strafrechtswissenschaft und Aufklärungsphilosophie kennzeichnet das Werk des Würzburger Strafrechtslehrers Gallus Aloysius Caspar Kleinschrod (1762–1824). In seinem 1794–1796 erschienenen Hauptwerk über die „Systematische Entwicklung der Grundbegriffe und Grundwahrheiten des peinlichen Rechts“ entwickelte er, ausgehend vom Humanitätsgedanken der Aufklärer, eine vor allem auf Spezialprävention setzende Straftheorie.
124
1802 legte Kleinschrod den „Entwurf eines peinlichen Gesetzbuchs für die Kurpfalzbairischen Staaten“ vor, der das längst überholte Bayerische Strafgesetzbuch von 1751 ersetzen sollte. Bei allen Verdiensten mangelte es Kleinschrods Entwurf jedoch an Systematik und begrifflicher Schärfe, was Feuerbach die Gelegenheit gab, sich durch eine fulminante Kritik des Kleinschrod’schen Entwurfs an die Spitze der Reformbewegung zu setzen.[214] Im Hinblick auf ihren philosophischen Hintergrund unterscheiden sich Kleinschrod und Feuerbach weniger, als dies oft angenommen wird.[215] Neben der begrifflich-technischen Überlegenheit war es vor allem Feuerbachs leidenschaftliche Rhetorik, die es ihm ermöglichte, Kleinschrod in den Hintergrund zu drängen.
2. Abschnitt: Strafrechtsgeschichte › § 6 Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des heutigen Strafrechts in der Aufklärung › F. Kant
F. Kant
125
In der deutschen Rechtsphilosophie, die Philosophie des Strafrechts eingeschlossen, gilt Immanuel Kant vielen als Höhepunkt der Aufklärung.[216] Diese Vorstellung ist, jedenfalls was die praktische Philosophie angeht, unzutreffend.[217] Unstrittig ist allerdings, dass Kant vor allem in seinen eher populären Schriften eindeutig im Sinne der Aufklärung gewirkt hat. Seine berühmte „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, gehört zu den meistzitierten Passagen der Philosophiegeschichte:[218]
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen …, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben.“
126
In der theoretischen Philosophie greift Kant die Erkenntnisskepsis David Humes auf und verbindet sie mit dem kontinentalen Rationalismus. Folgt man diesem (insofern Hume verpflichteten) Ansatz, so kann es kein sicheres Wissen geben, auch und gerade kein sicheres moralisches Wissen. Es ist deshalb überraschend, dass Kant dennoch zu meinen scheint, im „Kategorischen Imperativ“ ein solches Wissen gefunden zu haben. Seine Begründung hierfür ist bemerkenswert: Der „Kategorische Imperativ“ wird von ihm als „Faktum der Vernunft“ einfach vorgefunden, m.a.W.: sein Geltungsanspruch beruht auf einer bloßen Behauptung. Aber auch seine praktische Umsetzbarkeit wirft eine Fülle von Fragen auf; Hans Welzel hat einige der Probleme, die sich bei der Anwendung des Kategorischen Imperativs ergeben, treffend beschrieben.[219]
127
Kants wichtige Konzeption von „Würde“ wirkte sich im Strafrecht erst nach der expliziten Aufnahme des Würdeschutzes im Grundgesetz von 1949 aus (→ AT Bd. 1: Hilgendorf, Strafrecht im Kontext der Normenordnungen, § 1 Rn. 64). Kant griff die Humanitätsforderungen der Aufklärung auf und versuchte, sie als unverlierbaren Eigenwert des Menschen zu fassen.[220] Inwieweit ihm dies gelungen ist, ist bis heute umstritten.[221]
128
Kants praktische Philosophie lässt sich vor allem deswegen nur mit erheblichen Einschränkungen der Aufklärung zurechnen, weil er den von seinen aufgeklärten Zeitgenossen für überwunden gehaltenen Vergeltungsgrundsatz des alten theokratischen Strafrechtsverständnisses rehabilitierte und den für die Denker der Aufklärung prägenden Eudämonismus scharf ablehnte. Glück oder auch nur das Wohlergehen der vom Recht Betroffenen sind für ihn keine philosophisch relevanten Größen. Kant geht so weit, von den „Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre“ zu sprechen, die es zu überwinden gelte.[222] Die Vorstellung, Strafrecht nach seinen praktischen Wirkungen für die Bevölkerung zu bewerten und strafrechtliche Reformen als Reaktion auf Unrechtserfahrungen zu konzipieren, liegt diesem Ansatz fern. Beccarias Forderung nach Schaffung eines humanen Strafrechts nennt Kant schlichtweg Folge „teilnehmender Empfindelei einer affektirten Humanität“.[223]
129
Es überrascht deshalb nicht, dass Kant nicht nur verstümmelnden Strafen das Wort redet, sondern in scharfem Gegensatz zu Beccaria auch in seiner Verteidigung der Todesstrafe wieder hinter die Aufklärung zurückfällt. Schon sein vielzitiertes „Inselbeispiel“ spricht insofern Bände.[224] Alles in allem wird man deshalb Grünhut zuzustimmen haben, wenn er schreibt, Kant erscheine in der Geschichte der Rechtswissenschaft „wie ein wahrer Januskopf zugleich der geschichtlichen Vergangenheit und der zukünftigen Entwicklung zugewandt.“[225]
2. Abschnitt: Strafrechtsgeschichte › § 6 Die geistesgeschichtlichen