Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
und Abschaffung der Gesetze“, die Anfang 1750 in der Berliner Akademie der Wissenschaften verlesen wurde. Der Text dürfte unmittelbar unter dem Eindruck des 1748 erschienenen Hauptwerks Montesquieus „Vom Geist der Gesetze“ entstanden sein. Nach einem Überblick über die wesentlichen Etappen der Gesetzgebungsgeschichte der Menschheit zieht Friedrich folgendes Resümee:
„Untersucht man das Verfahren der weisesten Gesetzgeber, so findet man, dass die Gesetze sich nach der Regierungsverfassung und dem Geiste der Nation, welche dieselben empfangen soll, sich richten müssen, dass die besten Gesetzgeber nur das allgemeine Wohl beabsichtigen, und dass im Allgemeinen alle Gesetze, die am meisten der natürlichen Billigkeit gemäß sind, auch, mit wenigen Ausnahmen, die besten sind.“[142]
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In diesem knappen Zitat werden drei zentrale Elemente der friderizianischen Gesetzgebungspolitik angesprochen: die im Anschluss an Montesquieu formulierte Einsicht in die Orts- und Gesellschaftsrelativität der Gesetzgebung, die Orientierung am „allgemeinen Wohl“ und schließlich das Bekenntnis zu einer „natürlichen Billigkeit“, ein Konzept, welches Friedrich leider nicht näher erläutert.
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Wenn Gesetze „milde und billig sind“, so heißt es weiter, „so bestehen sie von selbst; sind sie hart und tyrannisch, so werden sie bald abgeschafft, weil man sie nur mit Gewalt aufrecht halten kann.“[143] Entschieden wendet sich Friedrich gegen die Folter und verteidigt ihre Abschaffung gegen den Vorwurf, sie führe zu Nachweisproblemen.[144] Sehr bemerkenswert ist seine Rechtskritik, etwa an den Gesetzen über uneheliche Geburten, welche die Mütter ehrlos machten und auf diese Weise Abtreibungen nicht verhinderten, sondern die betroffenen Frauen geradezu dazu drängten.[145] Friedrich spricht sich des Weiteren für klare, widerspruchsfreie, aus sich heraus verständliche Gesetze aus und lässt Sympathien für eine Kodifizierung erkennen.[146] Der Text endet mit einer Skizze des Menschenbildes des Preußenkönigs:
„Sich einbilden, die Menschen seien lauter Teufel, die sich grausam untereinander zerfleischen wollen, ist die Grille eines Menschenfeindes; ihnen aber die Zügel schießen zu lassen, wäre der Einfall eines dummen Kapuziners. Als vernünftiger Mensch nimmt man an, dass sie weder alle gut, noch alle böse seien, belohnt die guten Taten über ihrem Wert, bestraft die schlechten unter dem, was sie verdienen, hat Nachsicht mit ihren Schwächen, und übt Menschlichkeit gegen alle aus.“[147]
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Dies war die Grundlage, auf der Friedrich II. weitreichende Reformen des Strafrechts in die Wege leitete. Bereits erwähnt wurde die Abschaffung der Folter durch eine Kabinettorder vom 3. Juni 1740; ausgenommen waren nur schwere Staatsverbrechen, Mord mit mehreren Getöteten und Fälle, in denen noch Mittäter ausfindig gemacht werden mussten. Mitte der 50er Jahre wurden auch diese Restbestände abgeschafft. Aktiv ging Friedrich gegen übermäßig harte, unverhältnismäßige Strafen vor, etwa das Säcken. Andere Formen der Todesstrafe wurden zumindest in der Praxis abgemildert.[148] Neben die Abschreckung trat die Kriminalprävention als zentrale polizeiliche Aufgabe. Keine Strafmilderungen akzeptierte Friedrich II. dagegen bei Dienstpflichtverletzungen von Beamten, und auch das preußische Militärstrafrecht blieb in seiner vollen Brutalität erhalten.[149]
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Um Friedrich II. ranken sich zwei Müller-Geschichten, von denen die eine, über den „Müller von Sanssouci“, in das Reich der Legende gehört.[150] Dagegen spielte sich die Auseinandersetzung um den Wassermüller Arnold aus Züllichau (Kreis Kosen) tatsächlich ab und führte sogar zu einer veritablen Justizkrise in Preußen. Es ging dabei um den (rechtswidrigen) Eingriff des Königs in einen Rechtsfall.[151] Ogris nennt diesen Fall einen „Markstein in der Rechtsentwicklung des 18. Jahrhunderts.“[152] Der Fall führt vor Augen, dass das Preußen Friedrichs II. trotz aller Reformbemühungen des aufgeklärten „Philosophenkönigs“ von Rechtsstaatlichkeit in unserem Sinne immer noch weit entfernt war.
3. Karl Ferdinand Hommel (1722–1781)
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Karl Ferdinand Hommel verbrachte sein Leben überwiegend in Halle und Leipzig, wo er ab 1763 als Ordinarius wirkte.[153] Obgleich Hommel gerne als der „deutsche Beccaria“ bezeichnet wird, wurde sein selbst für einen Denker der Aufklärung ungewöhnlich weit gespanntes, facettenreiches Werk in der deutschen Strafrechtswissenschaft wenig beachtet, vielleicht auch, weil viele seiner Themen, etwa der Tierschutz,[154] weit über seine Zeit hinausreichen.
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Hommel besaß ein ausgeprägtes Interesse für Erkenntnistheorie und folgte dabei nicht, wie Leibniz und Wolff, einem rationalistischen Ansatz, sondern einem pragmatischen Empirismus, der auch seine Aussagen zur Begründung von Strafe durchzieht. Menschen besitzen ein natürliches Streben nach Glück und freier Entfaltung ihrer Fähigkeiten.[155] Aufgabe des Strafrechts ist es, den Menschen zu ermöglichen, ihren natürlichen Anlagen zu folgen, und das Gemeinwohl zu schützen. Strafwürdiges Unrecht darf nicht mit Sünde, also dem Verstoß gegen göttliche Gebote, verwechselt werden. Die darin angelegte Unterscheidung von Theologie und Jurisprudenz, von Kirche und Staat durchzieht fast alle rechtsphilosophischen Schriften Hommels.
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1765, also ein Jahr nach dem Erscheinen von Beccarias Schrift „Über Verbrechen und Strafen“ (s.o. Rn. 65),[156] stellt Hommel Kernelemente seines strafrechtskritischen Reformprogramms vor. Unter dem Titel „Principis cura leges“[157] fordert er in einem öffentlichen Vortrag ein Überdenken des bisherigen Strafrechts unter den Gesichtspunkten der Humanität und der Notwendigkeit der Sanktionen zur Sicherung des Gemeinwohls: „Härte schadet, übertriebene Gesetze werden lächerlich und am wenigsten gehalten“ – so fasst Hommel selbst seine zentrale Botschaft zusammen.[158] „Ein Gesetzgeber muss der menschlichen Schwachheit eingedenk sein, und die Natur der Sterblichen kennen; willst du einen Menschen Schwachheiten halber verdammen, so erinnere dich selbst, dass du Mensch bist.“[159]
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Besondere Bedeutung kommt Hommels Schrift „Über Belohnung und Strafe nach türkischen Gesetzen“ zu, die 1770 in erster und 1772 in zweiter, stark erweiterter Fassung erschien.[160] Hommel versucht darin den Nachweis zu führen, dass sich Moral und Strafe mit einem strengen Determinismus vereinbaren lassen, ja mit diesem vereint werden müssen. Der etwas merkwürdige Titel der Schrift ist dadurch zu erklären, dass zu Lebzeiten Hommels die türkische Version des Islam als in besonderer Weise fatalistisch galt. Und doch gab es in der Türkei Moral und (Straf-)Gesetze!
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Die Vorstellung, unter Zugrundelegung eines durchgehenden Determinismus sei Strafe sinnlos oder zumindest ungerecht, jedenfalls wenn man Strafe als Sühne oder gerechte Vergeltung versteht, taucht schon in der Antike auf.[161] Dennoch fand der Determinismus immer wieder Vertreter, die sich auf die Macht des Geschicks, die Allmacht Gottes und (ab der frühen Neuzeit) auf die Geltung der Naturgesetze beriefen. Hommels Determinismus wurzelt in seinem Verständnis des Christentums und der Allmacht Gottes: Wenn Gott alle Taten voraussehen kann, so stehen sie bereits fest und der Mensch vermag daran nichts zu ändern. Hommels wichtigster Gewährsmann für eine deterministische Position ist Martin Luther, dessen Schrift „De servo arbitrio“[162] er immer wieder zitiert. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts war der deutsche Protestantismus allerdings überwiegend indeterministisch eingestellt; Christian Wolff musste auf Befehl Friedrich Wilhelms I. binnen 48 Stunden bei Strafe des Strangs Halle verlassen, nachdem dem König zugetragen worden war, Wolff sei ein Determinist.[163]
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Hommels Schrift ist zwar, wie so viele Texte der Aufklärer,