Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
dass das Recht des Gemeinwesens (d.h. desjenigen oder derjenigen, die es vertreten) zur Bestrafung nicht auf ein Zugeständnis oder ein Geschenk der Untertanen begründet ist.“[58]
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Hobbes begründet die Strafbefugnis nicht vertraglich, sondern vielmehr damit, dass die Untertanen bei der Staatsgründung auf ihr eigenes Recht zu strafen verzichten, so dass die Strafbefugnis des Staates die einzig verbliebene ist: Die „Untertanen übertrugen dem Souverän dieses Recht nicht, sondern nur indem sie ihr Recht aufgaben, stärkten sie ihn, um von dem seinen Gebrauch zu machen, wie es ihn zu ihrer aller Erhaltung richtig dünken würde.“[59]
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Bemerkenswert deutlich unterscheidet Hobbes Sünden von Verbrechen. Für ihn ist zwar jedes Verbrechen eine Sünde, aber nicht jede Sünde ein Verbrechen. Hobbes verdeutlicht dies unter Hinweis darauf, dass bereits die Vorstellung eines Diebstahls oder eines Tötungsdelikt eine Sünde sei, da Gott auch die Gedanken der Menschen sehe. Dagegen handele es sich bei einer Sünde nicht um ein Verbrechen, „solange sie nicht durch eine Handlung oder Äußerung zutage tritt, wodurch ein menschlicher Richter den Vorsatz beweisen kann.“[60]
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Der Rekurs auf die Beweisbedürftigkeit eines Vorwurfs darf durchaus schon als Hinweis auf die Notwendigkeit eines rechtsstaatlichen Verfahrens gedeutet werden.[61] In diesen Zusammenhang gehört auch Hobbes Feststellung: „Wo kein staatliches Gesetz ist, gibt es kein Verbrechen“,[62] worin das Gesetzlichkeitsprinzip zumindest anklingt. Sehr bemerkenswert ist, dass Hobbes bereits die Wirkung von Kulturunterschieden auf das Strafrecht diskutiert: „Unkenntnis des staatlichen Gesetzes rechtfertigt einen Menschen in einem fremden Land, bis es ihm kundgetan wird, denn solange ist kein staatliches Gesetz bindend.“[63] Auf der Seite der Rechtsfolgen einer Straftat unterscheidet Hobbes Körperstrafen, Geldstrafen, Ehrverlust,[64] Haft und Exil.
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Positive Bezugnahmen auf Hobbes Strafrechtsphilosophie finden sich in der kontinentaleuropäischen (Straf-)Philosophie der Aufklärung selten. Dennoch waren seine Ausführungen wegen ihrer konsequenten Loslösung von einem theokratischen Fundament und ihrer begrifflichen Schärfe einflussreich. Noch Feuerbach setzt sich in einem seiner frühesten Werke, dem „Anti-Hobbes“ (1798), kritisch mit Hobbes auseinander, ohne sich allerdings gedanklich von ihm lösen zu können.[65] Prägend und zukunftsweisend wurde die (bei Hobbes allerdings nur angesprochene, aber nicht durchgeführte) Herleitung der Strafgewalt aus dem Gesellschaftsvertrag.
2. John Locke (1632–1704)
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John Locke leitet in seiner zweiten „Abhandlung über die Regierung“[66] (1689) die staatliche Strafgewalt aus einem Gesellschaftsvertrag her. Strafgewalt ist für ihn ein wesentlicher Teil der politischen Gewalt, was sich schon daran zeigt, dass Locke gleich zu Beginn seines Werkes die politische Gewalt wie folgt definiert:
„Unter politischer Gewalt verstehe ich … ein Recht, für die Regelung und Erhaltung des Eigentums Gesetze mit Todesstrafe und folglich auch allen geringeren Strafen zu schaffen, wie auch das Recht, die Gewalt der Gemeinschaft zu gebrauchen, um diese Gesetze zu vollstrecken und den Staat gegen fremdes Unrecht zu schützen, jedoch nur zugunsten des Gemeinwohls.“[67]
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Mit der Begehung einer Straftat verstößt der Missetäter gegen die Grundregeln der menschlichen Gemeinschaft:
„Mit seiner Übertretung des natürlichen Gesetzes erklärt der Missetäter, nach einer anderen Vorschrift als der der Vernunft und allgemeinen Gleichheit zu leben, die Gott den Menschen zu ihrer gegenseitigen Sicherheit als Maßstab für ihre Handlungsweise gesetzt hat. Er wird eine Gefahr für die Menschheit, denn er lockert und zerreißt jenes Band, das sie vor Unrecht und Gewalttätigkeit schützen soll. Da dies einem Vergehen gegen das ganze Menschengeschlecht gleichkommt, gegen seinen Frieden und seine Sicherheit gerichtet ist, die vom Gesetz der Natur festgelegt wurden, darf aus diesem Grunde jeder Mensch kraft seines Rechtes, die Menschheit im allgemeinen zu schützen, Dinge, die ihm schaden, abwehren oder, wenn nötig zerstören. … In diesem Fall und aus diesem Grund ist also jeder berechtigt, den Missetäter zu bestrafen und somit das Gesetz der Natur zu vollstrecken.“[68]
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Locke fügt seine Straftheorie in die Lehre vom Gesellschaftsvertrag[69] ein, einer Figur, mittels derer die tradierten Vorstellungen „gottgegebener“ herrschaftlicher Macht durchbrochen und die Staatsgewalt rational begründet werden sollte. Von der ganz überwiegenden Zahl seiner Anhänger wurde der Gesellschaftsvertrag als Fiktion verstanden, nicht als empirische Aussage über ein in der Vergangenheit liegendes faktisches Geschehen. Als Denkmodell bot die Lehre vom Gesellschaftsvertrag die Möglichkeit, ohne die überkommene religiöse Fundierung von Herrschaft auszukommen. Außerdem ließen sich so Beschränkungen der Herrschaft gleichsam aus ihrem Ursprung rational und transparent entwickeln.
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Um die politische Gewalt „richtig zu verstehen und sie von ihrem Ursprung abzuleiten“ sollen wir, so Locke,
„erwägen, in welchem Zustand sich die Menschen von Natur aus befinden. Es ist ein Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein.“[70] Dies hat unmittelbare Konsequenzen für Lockes Konzeption der Strafgewalt: „Damit nun alle Menschen davon abgehalten werden, die Rechte anderer zu beeinträchtigen und sich einander zu benachteiligen, und damit das Gesetz der Natur, das den Frieden und die Erhaltung der ganzen Menschheit verlangt, beobachtet werde, so ist in jenem Zustand die Vollstreckung des natürlichen Gesetzes in jedermanns Hände gelegt. Somit ist ein jeder berechtigt, die Übertreter dieses Gesetzes in einem Maße zu bestrafen, wie es notwendig ist, um eine erneute Verletzung zu verhindern.[71]
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Die in diesen Zeilen formulierte Zweckbindung der Strafe ist das wichtigste Instrument, um die Strafanwendung zu rationalisieren und die staatliche Strafgewalt zu bändigen.[72] Weiter heißt es:
„Der Mensch wird, wie nachgewiesen worden ist, mit einem Rechtsanspruch auf vollkommene Freiheit und uneingeschränkten Genuss aller Rechte und Privilegien des natürlichen Gesetzes in Gleichheit mit jedem anderen Menschen oder jeder Anzahl von Menschen auf dieser Welt geboren. Daher hat er von Natur aus nicht nur die Macht, sein Eigentum, d.h. sein Leben, seine Freiheit und seinen Besitz gegen die Schädigungen und Angriffe anderer Menschen zu schützen, sondern auch jede Verletzung dieses Gesetzes seitens anderer zu verurteilen und sie so zu strafen, wie es nach seiner Überzeugung das Vergehen verdient, sogar mit dem Tode, wenn es sich um Verbrechen handelt, deren Abscheulichkeit nach seiner Meinung die Todesstrafe erfordert. Da aber keine politische Gesellschaft bestehen kann, ohne dass es in ihr eine Gewalt gibt, das Eigentum zu schützen und zu diesem Zweck die Übertretungen aller, die dieser Gesellschaft angehören, zu bestrafen, so gibt es nur dort eine politische Gesellschaft (political society) wo jedes einzelne seiner Mitglieder seine natürliche Gewalt aufgegeben und zugunsten der Gemeinschaft in all denjenigen Fällen auf sie verzichtet hat, die ihn nicht davon ausschließen, dass von ihr geschaffene Gesetz zu seinem Schutz anzurufen. Auf diese Weise wird das persönliche Strafgericht der einzelnen Mitglieder beseitigt, und die Gemeinschaft wird nach festen, stehenden Regeln zum unparteiischen und einzigen Schiedsrichter für alle.“[73]
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Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Herleitung der Strafe bei Hobbes und bei Locke liegt darin, dass der Einzelne bei Hobbes auf die Geltendmachung seines Strafanspruches verzichtet, sodass nur noch der Strafanspruch des Souveräns übrig bleibt. Dessen Strafanspruch ist also nicht abgeleitet, sondern