Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
Aufklärer des 18. Jahrhunderts, allen voran Montesquieu (1689–1755) und Voltaire (1694–1778), lassen sich ebenfalls eher dem Empirismus zuordnen, obgleich bei ihnen die Erkenntnistheorie deutlich hinter die praktische Philosophie und die Rechtspolitik zurücktrat.
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Bemerkenswert ist auch, dass die Philosophie der Aufklärung zwar in Frankreich gegen die „Herrschenden“, also Adel und hohen Klerus, gerichtet war, eine Konfrontation, die schließlich 1798 in der Französischen Revolution gipfelte. In anderen Ländern, etwa im Preußen Friedrichs II. (1740–1786), aber auch in Österreich unter Joseph II. (1765–1790), wurde die Aufklärung dagegen von den absolutistischen Fürsten mitgetragen und teilweise sogar gegen den Willen der Bevölkerung und vieler Intellektueller durchgesetzt.
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Die großen Reformbewegungen im Strafrecht begannen in Preußen nach dem Machtantritt Friedrichs II. und damit sogar noch vor der Publikation von Montesquieus bahnbrechendem Werk „Vom Geist der Gesetze“ (1748). In den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts nahm die Strafrechtsreform dann in ganz Europa Fahrt auf. Der Justizmord an dem Toulouser Hugenotten Jean Calas, einer der berühmtesten Strafrechtsfälle des 18. Jahrhunderts, führte nach dem Eingreifen Voltaires zu einer europaweiten Debatte über die Reform des Kriminalrechts. Zu ihren wichtigsten Ergebnissen gehört Cesare Beccarias (1738–1794) epochemachendes Werk „Über Verbrechen und Strafen“ (1764), welches bis heute zu den Grundtexten der Strafrechtsreform weltweit gehört.
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Der durch das moralphilosophische und rechtspolitische Gedankengut der Aufklärung bewirkte Wandel in den strafrechtlichen Grundanschauungen ist so tiefgreifend, dass man den Ausgang des 18. Jahrhunderts im Strafrecht als Epochengrenze betrachten muss.[5] Ähnliches gilt für das Öffentliche Recht.[6] Auch für das Zivilrecht bedeutet dieser Zeitabschnitt eine tiefe Zäsur.[7] Doch während die Pandektistik des 19. Jahrhunderts die alte römische Rechtstradition in die moderne Welt zu übertragen versuchte, fehlen solche Versuche im Strafrecht. Trotz vielfältiger dogmengeschichtlicher Kontinuitäten und geistesgeschichtlicher Verbindungslinien stehen das Strafrecht und die Strafrechtswissenschaft des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts im Zeichen eines radikalen Neuanfangs.
2. Abschnitt: Strafrechtsgeschichte › § 6 Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des heutigen Strafrechts in der Aufklärung › B. Strafrecht in der Frühen Neuzeit
B. Strafrecht in der Frühen Neuzeit
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Das Strafrecht der frühen Neuzeit war durch eine heute fast unvorstellbare Grausamkeit und Willkür geprägt. Die Carolina von 1532[8] gab der Strafrechtspflege zwar eine Grundstruktur; vielfach wurde jedoch von ihren Vorgaben abgewichen.[9] Die Carolina enthielt außerdem nach heutigem Verständnis hochgradig grausame und irrationale Bestimmungen,[10] was sich umso verhängnisvoller auswirkte, als sie für über 200 Jahre die einzige umfassende gesetzliche Grundlage der Strafrechtspflege in den zersplitterten Territorien Deutschlands blieb. Auslegungsdifferenzen und Unsicherheiten in der Anwendung des Gesetzes konnten daher nicht ausbleiben.
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Die Strafrechtswissenschaft des 16. und frühen 17. Jahrhunderts beschränkt sich auf die Beschreibung und (bei anspruchsvolleren Werken) systematische Aufbereitung des geltenden Strafrechts, insbesondere der Vorschriften der Carolina. Ein einflussreiches Werk dieser Art ist etwa Damhouders erstmals 1554 publizierte „Praxis rerum criminalium“, die 1565 durch Beuther von Karlstadt in die deutsche Sprache übertragen wurde.[11] Die deutsche Fassung ist reich bebildert, was erheblich zur Verständlichkeit des Inhalts beigetragen haben dürfte. Kritik an der herrschenden Strafpraxis findet sich jedoch allenfalls in Ansätzen.
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Strafrecht und Strafrechtspflege des 17. und frühen 18. Jahrhunderts wurden wesentlich geprägt durch den Leipziger Gelehrten und Rechtspraktiker Benedikt Carpzov (1595–1666), der seine schriftstellerische Tätigkeit mit der Arbeit am Leipziger Schöppenstuhl verband. Man hat Carpzov als den „eigentliche[n] Begründer einer deutschen gemeinrechtlichen Strafrechtswissenschaft und praktisch wie wissenschaftlich vielleicht einflussreichste[n] deutsche[n] Juristen überhaupt“ bezeichnet.[12] Carpzovs 1635 erschienenes Hauptwerk „Practica nova Imperialis Saxonica rerum criminalium“ wurde im gesamten deutschen Raum und darüber hinaus rezipiert.[13] Einen vergleichbaren Einfluss auf die gemeinrechtliche Theorie des Strafrechts erreichte erst wieder Johann Samuel Friedrich von Böhmer (1704–1797).[14]
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Carpzovs Vorstellungen über das Strafrecht galten den Aufklärern als der Inbegriff eben der religiös verhetzten, gleichermaßen irrationalen wie inhumanen Strafrechtskonzeption, um deren Überwindung es ihnen ging. Dies mag erklären, warum das Bild Carpzovs bis in das 20. Jahrhundert hinein fast durchweg negativ gezeichnet wurde.[15] Andererseits ist nicht zu bezweifeln, dass Carpzov als streng bibelgläubiger Lutheraner[16] tatsächlich ein Hauptvertreter der fatalen Vorstellung einer Verknüpfung von weltlicher Straftat und „Sünde“ gegen die göttliche Ordnung war; zu Recht wird seine Staats- und Rechtsauffassung, und damit auch sein Strafrechtsverständnis, als „theokratisch-absolutistisch“ bezeichnet.[17]
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Carpzov zufolge dient die Strafe folgenden Zwecken: Die Ahndung von Verfehlungen sichert den Respekt gegenüber dem Gesetzgeber, sie wirkt general- wie spezialpräventiv und sie versöhnt Gott mit dem Verstoß gegen die von ihm gesetzte Ordnung. Die damit umrissene religiös fundierte Zielsetzung von Strafe rechtfertigt für Carpzov außerordentlich harte Bestrafungen: „Mitunter macht die Schwere eines Verbrechens es auch erforderlich, dass der Täter ausgemerzt wird, auf dass er nicht den göttlichen Fluch auf jenes Land ziehe, welches durch sein Verbrechen belastet ist“, schreibt er unter Berufung auf 5. Mos. 21 V. 7, 8, 21.[18] Überhaupt finden sich zahllose Belege aus dem Mosaischen Recht, bemerkenswerterweise oft verbunden mit Hinweisen auf antike Autoren wie Platon, Aristoteles oder Cicero. Menschliches Fehlverhalten wird mit einer Krankheit am gesellschaftlichen Körper verglichen, die es herauszuschneiden gelte.[19]
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Für eine Vielzahl von Delikten fordert Carpzov die Todesstrafe, nicht bloß für Tötungsdelikte, sondern auch für Gotteslästerung, Götzenanbetung, Giftmischerei, Sodomie, Ehebruch, Unzucht mit einer Verlobten und Blutschande.[20] Dabei ist zu beachten, dass die Todesstrafe damals meist in verschärften Formen vollstreckt wurde. Um die Abschreckungswirkung zu erhöhen und Gottes Wohlgefallen zu erregen, sollten Hinrichtungen öffentlich erfolgen; zustimmend erwähnt Carpzov die Praxis, „die Leichen der Erhängten für längere Zeit oder auch auf Dauer unbestattet am Galgen hängen“ zu lassen.[21]
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Trotz der nach heutigen Maßstäben extremen Härte der von ihm geforderten Strafdrohungen und der Zeitgebundenheit seines durch und durch religiösen Welt- und Menschenbildes wird man Carpzov zugutehalten müssen, versucht zu haben, Strafrecht und Strafrechtspflege rational zu durchdringen, die Vielzahl der bereits entschiedenen Fälle zu strukturieren und Regeln für die Entscheidung künftiger Fälle aufzustellen.
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Die Rechtspraxis des 17. und frühen 18. Jahrhunderts ist dem nur teilweise gefolgt. In vielen Ländern führte das Fehlen rationaler Kontrolle zu Willkür und ausschweifender Grausamkeit in der Strafverfolgung. Die Ursachen für diese Verrohung sind bis heute ungeklärt. Eine nicht unerhebliche Rolle dürfte die moralische Verunsicherung durch die Glaubensspaltung und die beispiellose