Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
rel="nofollow" href="#ulink_43f8a589-a3ca-52eb-a979-7700ca6b4e4c">Die Divergenz zwischen theoretischer Behandlung und praktischer Bedeutung einer „strafrahmenorientierten Auslegung“72
2.Zur Abgrenzung: Strafrahmenorientierung und allgemeine Folgenorientierung73, 74
3.Strafrahmenorientierung und klassisches Methodenquartett75 – 85
a)Verhältnis zur systematischen Auslegung76, 77
b)Verhältnis zur historisch-genetischen Auslegung78 – 81
c)Verhältnis zur teleologischen Auslegung82, 83
d)Zwischenergebnis84, 85
4.Inhaltliche Berechtigung einer strafrahmenorientierten Auslegung86 – 93
a)Die Strafrahmenberücksichtigung als Folge der allgemeinen Teleologie rechtlicher Regelungen88, 89
b)Das Verhältnis von Sanktionshöhe und Weite der Auslegung90, 91
c)Der Umgang mit Weite und partieller Inkonsistenz der Strafrahmen im StGB92, 93
5.Grenzen der strafrahmenorientierten Auslegung94 – 99
IV.Die Rangfolge der Auslegungsargumente100 – 108
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 3 Die Auslegung von Strafgesetzen › A. Einführung: Auslegungsbedürftigkeit und Auslegungsvorgang
I. Die Auslegungsbedürftigkeit – auch im Strafrecht
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Ebenso wie in allen anderen Rechtsgebieten ist auch im Strafrecht bei der Anwendung seiner Rechtsquellen – d.h. namentlich des StGB, aber auch der zahlreichen Gesetze mit flankierenden Strafvorschriften („Nebenstrafrecht“) und auch der Normen, welche für die Strafbarkeit in Bezug genommen werden[1] – eine Auslegung erforderlich. Das besondere, durch Art. 103 Abs. 2 GG auch verfassungsrechtlich widergespiegelte Interesse an Bestimmtheit und möglichst weitreichender Determination der Rechtsanwendung durch den Gesetzgeber[2] ändert daran nur bedingt etwas. Gewiss ist die besondere strukturelle Situation des strafenden Staates mit seiner erheblichen Eingriffsintensität zu berücksichtigen, da die verfassungsrechtliche Stellung des von der staatlichen Strafverfolgung betroffenen Bürgers sich auch methodisch widerspiegeln muss.[3] Dennoch zeigt die Geschichte, dass Versuche, die Anwendung des Rechts von vornherein – insbesondere durch Auslegungsverbote – festzulegen, gescheitert, ja eigentlich zum Scheitern verurteilt gewesen sind.[4] Die Bedeutungsgrenzen von Wörtern als solchen sind nicht nur unscharf, sondern können prinzipiell überhaupt nicht angegeben werden, da selbst umfassende Wörterbücher nur Verwendungsbeispiele aufzählen, nicht aber nach Art eines „Sprachgesetzbuches“ korrekte und inkorrekte Verwendungen dauerhaft und verbindlich festschreiben.[5] Jede Anwendung einer Regel pfropft diese auf einen neuen Kontext auf und verschiebt sie damit wenigstens minimal. Ein Verbot der Auslegung könnte also nur erfolgreich sein als Verbot der Anwendung eines Gesetzes.
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Dennoch ist der Konkretisierungsbeitrag des Strafrichters reduziert, denn die dem Richter sonst bei der Rechtsarbeit üblichen Konkretisierungstechniken stehen ihm nicht in vollem Umfang und in derselben Freiheit zur Verfügung.[6] So ist ihm die analoge Anwendung von strafbarkeitsbegründenden bzw. strafbarkeitsschärfenden Normen durch Art. 103 Abs. 2 GG untersagt,[7] und man wird auch (noch) stärker als sonst unter den Auslegungsargumenten einen Vorrang normtextnaher Argumente und damit insbesondere der Verwendung im allgemeinen (Alltags-)Sprachgebrauch besondere Bedeutung zuzumessen haben.[8]
II. Der Konkretisierungsvorgang und die Auslegungsmetapher
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Nach traditionellem Verständnis besteht die Auslegung von Gesetzen darin, dass der Normtext soweit „entfaltet“ (bzw. „ausgelegt“) wird, bis die in ihm gleichsam versteckte Lösung des Auslegungsproblems deutlich wird. Realistischer ist demgegenüber die Annahme, dass die Lösung des Problems noch nicht wirklich im Normtext (wie in einem Behälter voller Bedeutungen, unter denen die richtige nur herausgesucht werden muss) „steckt“. Vielmehr besteht in den Fällen, in denen eine Auslegung streitig ist, ein Bedeutungskonflikt zwischen den Beteiligten am Strafprozess,[9] und der Rechtsanwender hat den Konflikt über die Bedeutung des Normtextes tatsächlich selbst zu entscheiden. Er hat zwar das Gesetz, an das er nach Art 20 Abs. 3, 97 GG gebunden ist, als zentralen Orientierungspunkt. Auch dieses entbindet ihn jedoch nicht von der Last, letztlich eine eigene Entscheidung zu treffen.[10] Dieses unterschiedliche Verständnis vom tatsächlichen Vorgehen bei der Auslegung muss hier nicht vertieft werden – denn unabhängig davon gilt: Für die Entfaltung der oder aber die Entscheidung über die Bedeutung des Normtextes sind Hilfsmittel erforderlich. Diese Hilfsmittel sind zahlreich (und theoretisch sogar unbegrenzt), wobei die Diskussion üblicherweise durch die sog. Kanones der Auslegung geprägt ist, bei denen üblicherweise insbesondere zwischen grammatischer, systematischer, historischer und historisch-genetischer sowie teleologischer Auslegung unterschieden wird. Hinzu treten insbesondere die „Konformauslegungen“, also verfassungskonforme, konventionskonforme, richtlinienkonforme etc. Auslegung.
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Wie „funktionieren“ nun diese Kanones bei der Entscheidung über den Bedeutungskonflikt? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich noch einmal den Ausgangspunkt der Überlegungen klar machen. Dieser ist die Frage, ob ein bestimmter tatsächlicher Fall vom Gesetz „gemeint“ ist, d.h. ob er „unter das Gesetz passt“ oder nicht. Ein Fall wird dann immer umso weniger „unter das Gesetz passen“, wenn der fragliche Begriff eng verstanden