Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
dort verwendete Begriff weit verstanden wird, d.h. wenn die mit ihm verbundenen Bedeutungsmöglichkeiten vermehrt werden. Mit anderen Worten: Kanones der Auslegung sind letztendlich Argumente für eine Vermehrung oder Reduzierung der Bedeutungsmöglichkeiten von gesetzlichen Begriffen, indem der Begriff in einen bestimmten Kontext gestellt wird. Bei der grammatischen Auslegung ist dies der Kontext des (insb. Alltags-)Sprachgebrauchs; bei der systematischen Auslegung der Kontext der Verwendung des Begriffs in anderen Vorschriften, usw.[11]
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 3 Die Auslegung von Strafgesetzen › B. Die Auslegungsinstrumente
I. Die klassischen Kanones der Auslegung und ihre Anwendung im Strafrecht
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Im Folgenden sollen zunächst die klassischen Kanones – insoweit nicht abweichend von allgemeinen methodentheoretischen Grundsätzen, aber jeweils illustriert an strafrechtlichen Beispielen – dargestellt werden, bevor weitere (nicht unbedingt weniger wichtige, aber weniger oft abstrakt benannte) Auslegungsargumente (vgl. Abschnitte II [Rn. 46 ff.] und III [Rn. 72 ff.]) untersucht werden und der Rangfolgenfrage nachgegangen wird (vgl. Abschnitt IV [Rn. 100 ff.]). Zum klassischen Auslegungsquartett folgen einer kurzen Beschreibung des jeweiligen Inhalts der Methode[12] Erläuterungen nach, wie diese im o.g. Sinne bedeutungsreduzierend oder gerade bedeutungserweiternd wirken kann,[13] sowie eine Sammlung von Beispielen aus der Rechtsprechung; Sonderfragen der strafrechtlichen Auslegung, die in engem Bezug zu einer der klassischen Methoden stehen, werden jeweils im Zusammenhang damit exkursartig behandelt.
a) Der Kontext des (natürlichen und/oder Fach-) Sprachgebrauchs
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Die grammatische Auslegung erschließt den Kontext der Alltagssprache und des Sprachgebrauchs des Gesetzes; daneben kann insbesondere in Spezialregelungen für bestimmte Lebensbereiche auch der Fachsprachgebrauch der jeweiligen Gruppe eine Rolle spielen.[14] Dahinter steht der Gedanke, dass der Gesetzgeber einen Begriff im Zweifel so verwenden wird, wie er allgemein oder in Fachkreisen der geregelten Materie verwendet wird oder wie er ihn selbst an anderer Stelle im Gesetz verwendet. Dass dies aber nicht notwendig so sein muss, sondern dass vielmehr der Alltagssprachgebrauch im Einzelfall innerhalb des Adressatenkreises der Norm durchaus einmal ein weiteres Verständnis eines Begriffes zulässt als der Fachsprachgebrauch, zeigt deutlich eine Entscheidung des BGH vom 25. Oktober 2006,[15] in der es um die Frage ging, ob (nach einer alten, insoweit begrifflich auf „Tiere und Pflanzen“ abstellenden Fassung des BtMG) Pilze unter den Pflanzenbegriff des BtMG a.F. subsumiert werden können. Mit der naturwissenschaftlichen Klassifizierung der Pilze ist das nur schwer zu vereinbaren, da diese schon seit einiger Zeit in der Botanik (insbesondere mangels Photosynthese) nicht mehr den „Pflanzen“ zugerechnet werden. Der 1. Strafsenat macht hier aber überzeugend deutlich,[16] dass diese Klassifizierung in der Umgangssprache nicht selten durchbrochen wird und deswegen den Normadressaten das Strafbarkeitsrisiko durchaus bewusst gewesen ist.
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Dabei kann es freilich nicht entscheidend darauf ankommen, dass man – so der Senat im Bemühen um eine plastische Begründung – „immerhin (…) Pilze auch gemeinhin beim Obst- und Gemüsehändler“ kauft;[17] Denn die Einzelhandelsinfrastruktur orientiert sich ersichtlich weder am fach- noch am alltagssprachlichen Pflanzenbegriff, sind doch viele „Obst- und Gemüsehändler“ heutzutage südländische Feinkostläden, in denen auch Schafskäse und Mozzarella erworben wird, während man in „Pflanzen- und Gartencentern“ oft weder Obst noch Gemüse, dafür aber häufig Zierfische und Nagetiere kaufen kann. Auch Handys, Unterwäsche und Rasierapparate werden nicht schon dadurch zu Genussmitteln, dass sie regelmäßig in den Filialen eines bekannten Kaffeerösters angeboten werden. Entscheidend ist vielmehr, dass die Subsumtion unter den „aus der Sicht des Normadressaten erkennbaren Wortsinn des Terminus ‚Pflanze‘“ möglich und für den Normadressaten „also jedenfalls das Risiko einer Strafbarkeit erkennbar“ war.[18] Dies belegt der BGH mit „Recherche im Internet, das jedermann zur Veröffentlichung eigener Texte zugänglich ist und das deshalb umfassende Auskunft über das gesamte Spektrum des aktuellen Sprachgebrauchs geben kann“.[19] Damit wird berücksichtigt, dass die semantische Prägung heutzutage längst nicht mehr vorwiegend vertikal verläuft, sondern sich radikal in Folge des „web 2.0“ horizontalisiert hat. Gerade zum (damaligen) Strafbarkeitsrisiko des Handels mit „Zauberpilzen“ hatte sich eine Experten- und Autoritätenkultur „von unten“ auf Seiten herausgebildet,[20] die für die Meinungsbildung und damit das Sprachverständnis bei Konsumenten und Liebhabern berauschender Pilze nicht unterschätzt werden kann.
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Allgemein aber gilt: Auch bei einer Orientierung an einem Fachsprachgebrauch (der freilich ohnehin nur selten aufzufinden ist), erst Recht aber bei einer am Allgemeinsprachgebrauch können wirklich sprachliche Grenzen einer Begriffsverwendung allenfalls sehr weit gezogen werden.[21] Im o.g. Sinne des Gegensatzpaares von Bedeutungsreduzierung oder -mehrung wirkt daher die grammatische Auslegung regelmäßig bedeutungsmehrend.[22] Auch im Strafrecht werden – ungeachtet Art 103 Abs. 2 GG – Begriffe mitunter weiter verstanden, als es ein Laie auf den ersten Blick erwarten würde: So kann z.B. eine Urkunde i.S. des § 267 Abs. 1 StGB nicht nur ein feierlich unterzeichnetes Schriftstück mit Siegel oder zumindest Stempel oder Unterschrift sein, sondern auch ein Bierdeckel, auf dem die Bedienung für jedes konsumierte Getränk einen Strich gemacht hat.[23]
b) Verengung der Verständnismöglichkeiten
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Eine Verengung der Verständnismöglichkeiten kommt praktisch nur in Betracht, wenn einem Normtext eine Bedeutung zugerechnet werden soll, die so weit von der üblichen Verwendung abweicht, dass sich die dafür erforderlichen Begründungslasten niemand mehr aufbürden möchte. So wird sich z.B. selbst bei noch so wichtigen Zweckerwägungen niemand davon überzeugen lassen, auf das Verhältnis zwischen Vater und Tochter die Vorschriften über Ehegatten (unmittelbar) anzuwenden, bei der Zerstörung eines Spiegels oder einer Vase die Tötungstatbestände heranzuziehen oder aber hinsichtlich der gewerberechtlichen Zulässigkeit einer Imbissbude die Anwendung der atomrechtlichen Genehmigungsvorschriften als einschlägig zu erachten. Umgekehrt sind Begründungslasten auch dann nur schwer zu tragen, wenn die Anwendung eines Normtextes in einem Fall ausgeschlossen sein soll, in dem ein Proto- bzw. Stereotyp[24] des verwendeten Begriffes vorliegt: So wird schwer zu begründen sein, dass eine Vorschrift, die in einem allgemeinen Zusammenhang von allen „Vögeln“ spricht, „Amsel, Drossel, Fink und Star“ nicht erfassen soll. Nicht zufällig sind all diese Beispiele nicht nur einigermaßen praxisirrelevant, sondern auch einfach zu lösen.[25]
c) Erweiterung der Verständnismöglichkeiten
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Vielmehr wird das grammatische Argument im Regelfall zu einer Erweiterung der Verständnismöglichkeiten bzw. zum Nachweis (oder zumindest der Behauptung) herangezogen werden, dass die Verständnismöglichkeit keineswegs auf eine die Subsumtion ausschließende Lesart festgelegt ist. Eine Kontextualisierung, die auf das offene Medium der Sprache abstellt, eröffnet zumeist einen mehr oder weniger weiten Plausibilitätsspielraum. Dieser wird in konkreten Auslegungsvorgängen oft mit Sätzen wie „Die grammatischen Auslegung ist demnach offen.“ oder „Nach einer grammatischen Auslegung sind also beide Ansichten gleichermaßen vertretbar.“ zum Ausdruck gebracht. Eine Verengung der Bedeutungsvarianten bleibt in wirklich