Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
strafrechtlichen Ordnung durch andere, nicht-strafrechtliche Rechtsnormen beeinflusst wird. Der Anwendungsbereich dieser Frage ist nahezu unbegrenzt, da schon wegen des Postulats der Fragmentarität und Subsidiarität des Strafrechts die allermeisten Interessenkonflikte nicht ausschließlich strafrechtlich, sondern auch und vielfach „zuerst“ durch außerstrafrechtliche (z.B. privat- oder verwaltungsrechtliche Normen) geregelt sein werden. Der gleiche Lebenssachverhalt unterfällt damit ggf. zwei unterschiedlichen Normregimen mit möglicherweise unterschiedlichen (im schlimmsten Fall sogar gegenläufigen) Normbefehlen, was für jeden Einzelfall von Neuem zur Vorrangfrage führt.[57] Dabei stellt das Strafrecht einerseits in vielen „Vergleichsfällen“ – entsprechend seiner schärferen Rechtsfolgen – höhere Anforderungen an die Erfüllung eines Unrechtstatbestandes.[58] Klar dürfte insoweit sein, dass kein genereller Vorrang einer Norm nach den Grundsätzen der lex superior[59] oder posterior besteht. Vielmehr muss die Abgrenzung eine inhaltliche sein. Dafür spricht auch, dass die Problemlösungen in den unterschiedlichen Rechtsgebieten (nicht stets historisch, aber doch rechtstheoretisch) letztlich Ausdifferenzierungen einer rechtlichen Ordnung sind. Auf der einen Seite spricht die Zielvorstellung der Einheit der Rechtsordnung dafür, möglichst einen Gleichlauf herzustellen, auf der anderen Seite können außerstrafrechtliche Normen eigenständige Ziele verfolgen, für die eine Auswirkung auf die strafrechtliche Bewertung ohne Belang ist.
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Hat man die Problemstellung erst einmal so benannt, wird die Parallelität zu ähnlichen, in anderem Zusammenhang bereits diskutierten Fragen deutlich. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis von materiellem und prozessualem Strafrecht in Fällen, in denen beide miteinander (zumindest scheinbar) kollidieren.[60] Bekanntestes Beispiel ist dabei die Frage nach der Strafbarkeit des Strafverteidigers wegen Strafvereitelung durch die Wahrnehmung strafprozessualer Befugnisse;[61] eine weitere umfangreiche Fallgruppe betrifft das Verhältnis materiell-rechtlicher Geheimhaltungsvorschriften zu prozessrechtlichen Offenbarungsbefugnissen oder sogar -pflichten. Die zu diesen Fragen namentlich von Sieber[62] unter Rückgriff auf allgemeine Überlegungen der Normlogik sowie vor allem der (strafrechtlichen) Konkurrenzlehre[63] entwickelten Überlegungen können auch allgemein fruchtbar gemacht werden. Die grundsätzlich überzeugende Grundaussage ist dabei, dass einer Norm im Verhältnis zu einer anderen immer dann Vorrang zukommt, wenn sie die inhaltsreichere Regelung ist, da „eine inhaltlich reichere Aussage den Willen des ‚Sprechenden‘ vorrangig vor einer inhaltlich ärmeren wiedergibt“.[64]
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Für das Verhältnis der einzelnen Normen des Strafgesetzbuches zu anderen, außerstrafrechtlichen Regelungen gilt daher (wie auch für das Verhältnis anderer Vorschriften unterschiedlicher Rechtsgebiete zur Regelung eines Sachverhaltes): Soweit überhaupt ein (zumindest scheinbarer) Bewertungskonflikt der kollidierenden Normen besteht, ist vorrangig die Wertung der Norm zu beachten, die in der konkreten Situation inhaltsreicher ist. Eine noch klarere Formulierung lässt sich unter Rückgriff auf die Binding‘sche Differenzierung von Verhaltens- und Sanktionsnorm[65] erreichen: Zu vergleichen sind die im Strafgesetz sowie die in der außerstrafrechtlichen Vorschrift liegende Verhaltensnorm. Die inhaltsreichere Verhaltensnorm ist dann bei der Auslegung der inhaltsärmeren möglichst so zu berücksichtigen, dass im Ergebnis der Konflikt vermieden wird. Es soll also nicht auf Grund der inhaltsärmeren Norm ein Verhalten angeordnet (oder zumindest erlaubt) werden, das dem Verhaltensverbot der inhaltsreicheren Norm widerspricht, umgekehrt aber auch nicht auf Grund der inhaltsärmeren Norm ein Verhalten verboten werden, das die inhaltsreichere Norm gerade zulässt. Dabei besteht ein Konflikt im o.g. Sinne, wenn die Rechtsfolge, die nach einer Norm eintreten müsste, mit den Wertungen der anderen Norm nicht in Einklang zu bringen ist; kein Konflikt wird dagegen erzeugt, wenn an einen Sachverhalt nur in mehreren Rechtsgebieten jeweils bestimmte (womöglich sogar mehr oder weniger gleich gerichtete) Rechtsfolgen geknüpft werden (so etwa die Anordnung eines Schadensersatzanspruches in § 823 Abs. 1 BGB an ein bestimmtes deliktisches Verhalten und die staatliche Strafdrohung z.B. nach §§ 212, 223, 242, 303 StGB für dasselbe Verhalten oder die Strafandrohung für die Tötung eines Menschen und der gesamtrechtsnachfolgerische Vonselbsterwerb des Vermögens des Getöteten durch seine Erben bzw. der gegenüber den Erben daraus entstehende Erbschaftsteueranspruch).
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cc) Welche Schwierigkeiten mit der Anwendung in konkreten Fällen verbunden sein können, lässt sich anschaulich an der Frage zeigen, inwieweit etwa existente „Sondernormen“ eine Vorwertung für die Frage einer Strafbarkeit für berufsbedingte Unterstützungshandlungen enthalten:[66] Wendet man diese Grundsätze auf das Problem berufsbedingter Unterstützungshandlungen an, könnte man einerseits darauf abstellen, dass die außerstrafrechtlichen Normkomplexe, die das jeweilige berufliche Verhalten regeln, sachnäher und – da gerade auf den jeweiligen Leistungsgegenstand zugeschnitten – inhaltsreicher sind als die allgemeinen, unterschiedlichste Verhaltensweisen regelnden Strafnormen. Andererseits behandeln die außerstrafrechtlichen Normen zumindest regelmäßig den unzweifelhaft legalen Umfang mit den jeweiligen Leistungsgegenständen und haben dabei (wenn nicht gerade ebenfalls eine Verbotsnorm vorliegt) den Normalfall vor Augen, in dem es im Zusammenhang mit der Leistungserbringung zu keinem deliktischen Erfolg kommt. Insoweit könnte man auch die Strafnorm als inhaltsreicher erachten, wenn es zu einem der in ihr umschriebenen Erfolge kommt. Eine generelle Aussage lässt sich daher nicht ohne weiteres treffen, sondern es kommt maßgeblich auf den Inhalt der Straf- und vor allem der außerstrafrechtlichen Norm an. Dabei kann etwa danach unterschieden werden,
– | ob nur eine rudimentäre Regelung des beruflichen Verhaltens ohne Aussage über das ganz konkrete Verhalten vorliegt (so dass ein größerer Inhaltsreichtum zwangsläufig ausscheidet), |
– | ob für ein bestimmtes Verhalten mehr oder weniger detaillierte Regelungen bestehen und diese auch eingehalten wurden (was auf den ersten Blick zwar ein Indiz dafür sein kann, dass der Gesetzgeber die potentielle Gefährlichkeit bzw. Missbrauchsanfälligkeit eines Verhaltens gesehen hat, dieses aber unter Abwägung der betroffenen Interessen bei Einhaltung bestimmter formeller oder materieller Voraussetzungen bewusst in Kauf nimmt,[67] indes ist umgekehrt auch nicht selbstverständlich, dass die ausdrückliche Gestattung eines Verhaltens unter bestimmten gefährlichen Umständen auch in Konstellationen gelten soll, die im Übrigen die Voraussetzungen eines Strafgesetzes erfüllen) oder |
– | ob ein Fall eines Verstoßes gegen die Sondernorm vorliegt, dem dann eine wichtige Bedeutung zukommt, wenn der Schutzzweck der verletzten Sondernorm gerade darin besteht, zu verhindern, dass bestimmte deliktische Erfolge erleichtert werden; man könnte hier auch sagen: Es gibt kein Konkurrenzproblem, sondern das Strafrecht verschärft die Verhaltensnorm der nicht-strafrechtlichen Vorschrift. Dagegen ist ein Verstoß gegen eine nicht-strafrechtliche Norm unbeachtlich, soweit der Schutzzweck der verletzten Norm den späteren deliktischen Erfolg nicht erfasst. |
a) Der Kontext von Vor- und Entstehungsgeschichte
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Die historische und die historisch-genetische Auslegung erschließen die Kontexte früherer Texte: die historische Auslegung den von früheren Rechtsnormen, die genetische die von Gesetzesmaterialien. Dahinter steht der Gedanke, dass der Gesetzgeber sich bei seiner Arbeit zum einen an Vorläuferregelungen – sei es ihnen folgend, sei es gerade bewusst neue Wege einschlagend – orientiert und dies auch oft in den Materialien zum Ausdruck bringen wird.[68] Auch die unkommentierte Übernahme älterer Regelungen kann allerdings von Bedeutung sein und u.U. so gedeutet werden, dass der Gesetzgeber eine bekannte Praxis zur Kenntnis genommen und keinen Anlass dazu gesehen hat, diese zu ändern. Dies kann ein Argument für die weitere Auslegung im Sinne der bisher geübten Praxis sein.
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