Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
nur „bedeutungsreduzierend“ wirken, weil sie (eine) bestimmte Lesart(en) gerade ausschließt. Streng genommen ist sie freilich im Unterschied zum bisher betrachteten klassischen Methodenquartett[103] kein eigenständiges Auslegungskriterium, sondern „nur“ ein Kontrollmechanismus nach Abschluss einer Auslegung, welche verschiedene Ergebnisse nebeneinander bestehen lässt.
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Theoretisch ist dies als Konzept ohne weiteres überzeugend; die praktischen Anwendungsfälle halten sich dagegen – jedenfalls auf den ersten Blick – in Grenzen. Dies nicht einmal so sehr wegen des Erfordernisses, dass „nach Abschluss“ des (originären) Auslegungsvorganges noch verschiedene Ergebnisse weiterhin möglich sind. Denn unter Berücksichtigung der oben beschriebenen grundsätzlichen Offenheit der Sprache dürfte dieser Fall nicht selten sein; dagegen dürfte es häufig an der zweiten Voraussetzung fehlen, dass bei der originären Auslegung einer als solchen verfassungsgemäßen einfachrechtlichen Vorschrift starke (etwa systematische, historische oder teleologische) Argumente nicht nur für verfassungskonforme, sondern auch für ein verfassungswidriges Ergebnis sprechen, denn nur dann greift dieses Kontrollkriterium ja ein.
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Auf den zweiten Blick könnte man indes etwa in all den Fällen, in denen das BVerfG eine Norm per se als verfassungsgemäß, eine bestimmte Auslegung aber als verfassungswidrig beanstandet[104] bzw. für die Auslegung bestimmte Vorgaben gemacht hat,[105] als potentielle Anwendungsfälle einer verfassungskonformen Auslegung betrachten, bei denen dieser Kontrollschritt freilich nun durch das BVerfG schon für die Zukunft vorweggenommen worden ist. Allerdings betreffen die hierzu bekannt gewordenen Fälle überwiegend Art. 103 Abs. 2 GG. Insoweit scheint es in den im Strafrecht wirklich praktischen Fällen oft weniger um eine materiell-verfassungskonforme Auslegung zu gehen,[106] sondern die formelle Komponente der Einhaltung des Gesetzlichkeitsprinzips im Vordergrund zu stehen.[107] Eine prominente Ausnahme bildet die „Soldaten-sind-Mörder“-Rechtsprechung[108] – und dies wohl nicht ohne Grund, handelt es sich hier doch um einen Bereich, der einerseits durch Art. 5 Abs. 1 GG in besonderer Weise verfassungsrechtlich geprägt ist und in dem andererseits die gesetzliche Vorgabe („Beleidigung“) denkbar offen und vage ist, so dass sich die oben formulierte Frage, ob bzw. wie gängige Auslegungsargumente überhaupt zu einem verfassungswidrigen Ergebnis führen können, nicht in gleicher Schärfe stellt.
a) Einordnung: Strafrecht – Verfassung – Auslegung
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Von dieser Art der Ergebniskontrolle zu unterscheiden ist die praktisch wahrscheinlich durchaus wichtigere, theoretisch aber deutlich weniger beleuchtete[109] grundrechtsorientierte Auslegung als Sonderfall einer verfassungsrechtlich-systematischen Interpretation. Dies überträgt sonst vor allem im Zusammenhang mit der Rechtssetzung diskutierte Topoi in die Auslegung. Der Umstand, dass sich die meisten Abhandlungen zum Verhältnis von Strafrecht und Verfassungsrecht (schwerpunktmäßig, wenn nicht gar ausschließlich) mit der Strafgesetzgebung, nicht dagegen mit der Anwendung der Strafgesetze befassen, ist nämlich nicht nur etwas überraschend, weil die Verfassungsgemäßheit der konkreten Rechtsanwendung sonst in der verfassungsrechtlichen Diskussion durchaus eine eigenständige Rolle spielt; vielmehr ist es auch deshalb ein echtes Defizit, weil in diesem Bereich wohl „viel mehr zu gewinnen“ wäre.
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Soll geprüft werden, ob eine bestimmte „kämpferische“ Äußerung im Wahlkampf eine Beleidigung i.S.d. § 185 StGB darstellt, ist nicht problematisch, ob § 185 StGB als solcher mit Art. 5 Abs. 1 GG vereinbar ist, sondern ob bei der Auslegung der Vorschrift die Garantie der Meinungsfreiheit angemessen berücksichtigt wurde. Geht es um die Frage nach der Strafbarkeit neutraler, berufsbedingter Verhaltensweisen wegen Beihilfe (die unten nochmals als Beispiel herangezogen werden wird), so ist auch nicht ernsthaft erwägenswert, ob vielleicht § 27 StGB generell gegen Art. 12 Abs. 1 GG verstößt, sondern nur, wie die Berufsfreiheit bei der Auslegung von § 27 StGB zu berücksichtigen ist, wenn berufliches Verhalten in Rede steht. Dies gilt auch und insbesondere im Bereich „diesseits harter Verfassungswidrigkeit“, d.h. wenn es gerade nicht (wie bei der verfassungskonformen Auslegung) darum geht, ob eine bestimmte Auslegung verfassungswidrig ist, sondern wenn überlegt wird, ob ein anderes Ergebnis etwa die betroffenen Grundrechte noch besser zur Geltung bringen könnte (vgl. dazu unten Rn. 54 ff.).
b) Vorbehalte gegen die Berücksichtigung
verfassungsrechtlicher Überlegungen?
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Bevor näher auf die verfassungsorientierte Auslegung und ihr Verhältnis zur verfassungskonformen Auslegung eingegangen wird, sind einige wenige Sätze zur Berechtigung einer Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Erwägungen angezeigt,[110] die in der älteren Literatur vereinzelt in Frage gestellt wird,[111] weil wegen des naturrechtlichen Gedankens des „neminem laedere“ Rechtsgarantien für illegitime Verletzungen ausgeschlossen seien.[112] Zumindest Strafrechtsnormen für solche Delikte, die „sich im Bewußtsein der Volksgenossen als ‚crimen‘ darstellen“, wurden von Dürig als „immanente Schranken“ aller Grundrechte gesehen.[113] Eine solche Restriktion des Schutzbereiches kann trotz der Suggestivkraft der herangezogenen Beispiele – besonders beliebt in diesem Zusammenhang: Grundrechtsschutz auch für den „kaltblütigen Killer“? – nicht überzeugen: Dass Straftatbestände nicht generell der umfassenden Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt nach Art. 1 Abs. 3 GG entzogen sein können, ist evident. Der beschränktere Ansatz hinsichtlich der Handlungen, die den „Volksgenossen“ als „crimen“ erscheinen, ist in seiner mangelnden Klarheit[114] für eine so grundlegende Weichenstellung schon zu Beginn der Prüfung methodisch ungeeignet. Zuletzt sind auch solche Überlegungen nicht erforderlich, da sich die vielleicht intuitiv für richtig gehaltenen Ergebnisse unproblematisch auch bei einem weiten Schutzbereichsverständnis mit der gesicherten Grundrechtsdogmatik begründen lassen – wäre es doch mehr als erstaunlich, wenn sich gerade für solche Verhaltensweisen, die einem erhöhten sozialethischen Vorwurf ausgesetzt sein sollen, keine überzeugende Begründung für die Zulässigkeit und Angemessenheit ihrer Beschränkung finden ließen.[115]
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Ernster wiegen daher Einwände, die sich nicht gegen die Zulässigkeit, sondern gegen die Ergiebigkeit einer verfassungsrechtlichen Argumentation richten, insbesondere bei einem Vergleich der detaillierteren Vorschriften des Strafrechts und seiner ausdifferenzierten und elaborierten Dogmatik mit den relativ allgemein gehaltenen Normen des GG,[116] die etwa Naucke als nur „verfassungsrechtlich ein(gekleidete)“[117] Argumentationsstränge bezeichnet, bei der die Verfassung die „Überpositivität gegenüber dem relativistischen Positivismus“ vertrete. Indes dürfte der zugegebenermaßen oft knappe Verfassungstext insbesondere durch die Spruchpraxis des BVerfG mittlerweile vielfach in einem Maße an Substanz gewonnen haben, das durchaus reichhaltiges Argumentationsmaterial an die Hand gibt. Zudem gilt es eben, die beschränkte Leistungsfähigkeit einer verfassungsrechtlichen Beurteilung realistisch einzuschätzen und diese Beschränktheit auch bei der Gewichtung des Arguments redlich zu berücksichtigen – indes ist dies kein Problem allein der verfassungsorientierten Auslegung, sondern gilt auch für das klassische Methodenquartett (mal mehr, mal weniger). Und gewiss ist die Erkenntnis, wie ein Auslegungsergebnis auf keinen Fall aussehen darf, zur Minimierung verfassungsrechtlicher „Risiken“ möglichst nicht aussehen sollte oder zu einer möglichst optimalen Verwirklichung verfassungsrechtlich begründeter Postulate sogar wünschenswert wäre, schon ein Fortschritt.
aa)