Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
Der BGH allerdings geht davon aus, dass trotz der Verwendung des gleichen Begriffs insoweit eine andere Bedeutung gelten soll,[43] d.h. die Bedeutungsreduzierung durch den Kontext der Verwendung an anderer Stelle scheitert daran, dass dem Begriff dort eine andere Bedeutung zugemessen wird: Der Senat selbst leitet dieses unterschiedliche Verständnis bei den Sexualdelikten aus einem Vergleich mit den Straftatbeständen des sexuellen Missbrauchs Widerstandsunfähiger (die keinen entgegenstehenden Willen bilden können) ab; in der Literatur wird außerdem darauf abgestellt, dass beim Hausfriedensbruch ohne Weiteres Möglichkeiten einer wertungsärmeren Formulierung (z.B. „betreten“) bestanden hätten, die es bei Sexualdelikten nicht ohne Weiteres gebe.[44]
c) Erweiterung der Verständnismöglichkeiten
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Eine zusätzliche Erweiterung der Bedeutung auf Grund der Systematik (oder auch eines anderen Kontextes) kommt zwar regelmäßig nicht gegenüber der weiten grammatischen Auslegung in Betracht, wohl aber gegenüber einer bereits durch andere Kontexte (scheinbar) reduzierten Lesart. Die Systematik kann dann zeigen, dass doch ein weiteres Verständnis überzeugender ist, obwohl auf den ersten Blick andere Gesichtspunkte für eine Einengung zu sprechen schienen. Dies ist dann der Fall, wenn der Vergleich mit einer anderen Vorschrift ein Argument dafür liefert, dass ein bestimmter, durch ein engeres Verständnis ausgeschlossener Sachverhalt, offenbar doch vom Gesetz erfasst sein soll.
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Exemplarisch lässt sich dies anhand der vor dem 6. StrRG heftig umstrittenen, danach weitgehend einheitlich beantworteten Scheinwaffenproblematik zeigen: Der Wortlaut des 1998 neu gefassten § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB, wonach ein qualifizierter Fall des Raubes vorliegt, „wenn der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raub sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand einer anderen Person durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder überwinden“ lässt zwar durchaus die Lesart zu, dass dieses Mittel nicht objektiv gefährlich sein muss, sondern auch eine objektiv ungefährliche Scheinwaffe zur Bedrohung genügen kann. Es ließe sich aber mit Blick auf den hohen Strafrahmen[45] sowie auf die Tatsache, dass das Element der Drohung bereits im Grundtatbestand des einfachen Raubes nach § 249 StGB berücksichtigt ist, ein Zweck der Vorschrift postulieren, nach dem nur objektiv gefährliche Gegenstände den Tatbestand der Qualifikation erfüllen. Ein Blick in die innertatbestandliche Systematik zeigt jedoch, dass bereits § 250 Abs. 1 Nr. 1a StGB alle „Waffen oder anderen gefährlichen Werkzeuge“ erfasst. Soll diesen „anderen gefährlichen Werkzeugen“ neben den „Waffen“ eine eigenständige Bedeutung zukommen, muss Nr. 1a alle objektiv gefährlichen Gegenstände erfassen. Dann aber müssen mit „sonstigen Werkzeugen“ gerade (wenn nicht sogar nur!) objektiv ungefährliche Gegenstände gemeint sein.[46]
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Das Beispiel zeigt im Übrigen auch anschaulich, dass ein auszulegender Begriff auch in unterschiedliche systematische Kontexte gestellt werden kann – mit durchaus gegenläufigen Ergebnissen. In einer solchen „Patt-Situation“ wird dann das systematische Argument allein kaum den Ausschlag geben, aber zumindest den „gegnerischen“ Hinweis auf die Systematik entkräften können. Die Entscheidung über den Bedeutungskonflikt kann dann umso leichter mit anderen Argumenten begründet werden (so in der Scheinwaffenproblematik mit dem historisch-genetischen Hinweis auf die Gesetzesbegründung[47]).
d) Beispiele aus der Rechtsprechung
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– | In einem Fall zu § 311d StGB a.F. (jetzt § 311 StGB) röntgte ein Arzt seine Patienten exzessiv und ohne medizinische Indikation, jedoch mit tadellosen Geräten. Der BGH zog die Stellung der Norm im Abschnitt „gemeingefährliche Straftaten“ heran, um zu begründen, dass der Gesetzgeber Fälle, in denen gezielt nur eine Person gefährdet wird, nicht erfasst sehen wollte, sondern nur Konstellationen, in denen durch Handlungen des Täters „potentiell gefährliche Stoffe wie ionisierende Strahlen unkontrolliert entweichen… mit der Folge der Gefährdung einer Vielzahl von Personen“, BGHSt 43, 246 (349). |
– | BGHSt 44, 361 lagen Uneinigkeiten zur Frage nach Modell- oder Ausnahmecharakter von § 76 Abs. 1 und Abs. 2 GVG zu Grunde. Sind die großen Strafkammern grundsätzlich mit drei (Abs. 1) oder mit zwei (Abs. 2) Berufsrichtern zu besetzen? Der BGH stellte klar: Sowohl systematisch als auch vom Wortlaut her handelt es sich aus gesetzestechnisch-qualitativer Sicht bei Abs. 1 um den Grundsatz, bei Abs. 2 um die Ausnahme (selbst wenn in praktisch-quantitativer Hinsicht Abs. 2 die Regel sei). |
e) Exkurs: Systematische Auslegung und Akzessorietät von Strafnormen
zu außerstrafrechtlichen „Primärmaterien“
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aa) Aus der Perspektive der „Auslegung“ betrachtet[48] ebenfalls eine systematische Frage betrifft die Bedeutung außerstrafrechtlicher „Primärmaterien“[49] für das Verständnis der flankierenden Strafnormen; denn auch hier geht es um Rechtsfindung unter Berücksichtigung des Rechtssystems als Ganzem. Eine in diesem Sinne weit verstandene systematische Beziehung, welche die Frage nach – vollständiger oder ggf. auch nur teilweiser, z.B. „asymmetrischer“ – Akzessorietät[50] der Strafnormen aufwirft, ist in mannigfaltiger Gestalt denkbar: Topoi sind hier etwa
– | normative Tatbestandsmerkmale (deren Bestimmung eine rechtliche Wertung voraussetzt),[51] |
– | Blankett-Tatbestände (bei denen im Fall von echten Blanketten die Strafnormen nur die Sanktionsnorm enthalten, während die zugehörige Verhaltensnorm sich an anderen Stellen des Gesetzes in nicht-strafrechtlichen Kontexten findet),[52] |
– | verwaltungsrechts- oder verwaltungsaktsakzessorische Tatbestände, die einen Verstoß gegen verwaltungsrechtliche Pflichten voraussetzen, welche entweder in verwaltungsrechtlichen Gesetzen oder auch in entsprechenden Einzelfallregelungen (Verwaltungsakten) niedergelegt sind[53] oder auch nur |
– | allgemeine Verweise auf die „Rechtswidrigkeit“ oder „Unbefugtheit“ eines Verhaltens, welche nicht nur bei Vorliegen allgemeiner Rechtfertigungsgründe ausgeschlossen sein können, sondern teilweise auch auf Erlaubnistatbestände nach den Normkomplexen verweisen, zu denen die nebenstrafrechtlichen Tatbestände gehören (so z.B. § 44 Abs. 1 i.V.m. § 43 Abs. 2 BDSG oder § 106 UrhG). |
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Soweit hier explizite Bezugnahmen erfolgen oder ein Tatbestandsmerkmal in sonstiger Weise als Rechtsbegriff unmittelbar auf außerstrafrechtliche Wertungen verweist, ist die Beachtlichkeit der Primärnorm für die Auslegung im Ausgangspunkt erst einmal unproblematisch. Freilich können sich weitere Einzelprobleme anschließen, so etwa die Frage, ob bei dem von der sachenrechtlichen Bewertung abhängigen Merkmal der Fremdheit auch zivilrechtliche Rückwirkungsfiktionen (z.B. bei der Anfechtung) Anwendung finden können[54] oder ob bei verwaltungsaktsakzessorischen Tatbeständen die Rechtsmäßigkeit oder nur die Wirksamkeit eines potentiell rechtfertigenden bzw. tatbestandsausschließenden Verwaltungsaktes entscheidend ist.[55] Auch diese Fragen müssen zwar letztlich durch Interpretation der Tatbestände geklärt werden; dabei sind allerdings im Regelfall doch vorrangig allgemeine dogmatisch-systematische Kategorien entscheidend, und die Beurteilung erfolgt nicht für jeden Einzelfall nach dessen Besonderheiten durch neuerliche Auslegung der betreffenden Normen.[56]
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bb) Stärker ein methodisches Problem, das in jedem Einzelfall durch individuelle