Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
eine noch größere kriminelle Energie an den Tag legt als bei einer qualifizierten Nötigung erst im Falles des Entdeckt-Werdens, sind das alles teleologische Argumente, die über die durch die grammatische Auslegung begründeten Zweifel hinweghelfen sollen. Das Beispiel macht aber zugleich auch deutlich: Immer dann, wenn man mit der teleologisch begründeten Bedeutungserweiterung nicht „nur“ systematische oder historische Argumente überspielen will, gerät man rasch in eine Grauzone, in der der Wortlaut in einer sub specie Art. 103 Abs. 2 GG nicht unbedenklichen Weise hintangestellt wird. Eben auf diesen Art. 103 Abs. 2 GG rekurriert dann auch die h.M. in anderen Fällen, in denen durchaus teleologische Gründe für eine Subsumtion unter ein Merkmal gefunden werden könnten, so etwa wenn es um die Frage geht, ob Körperteile gefährliche Werkzeuge sein können.[94]
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Ganz allgemein ist vor einer vorschnellen strafbarkeitsbegründenden Bedeutungserweiterung (allein) mit dem Argument einer teleologischen Auslegung deshalb zu warnen, weil sonst der wohlfeile Schluss „Strafrecht soll dem Rechtsgüterschutz dienen – Ein weiteres Verständnis verstärkt diesen Rechtsgüterschutz – Das weite Verständnis ist also auf Grund einer teleologischen Auslegung vorzugswürdig“ die teleologische Auslegung zu einem „punitiven Superargument“ machen würde.[95] Das BVerfG hat dies in einer bekannten Entscheidung zu § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB ganz zutreffend ausgeführt: Während die fachgerichtliche Rechtsprechung über Jahrzehnte das vorsatzlose Sich-Entfernen dem „entschuldigten“ gleichstellte,[96] wurde in der Literatur seit jeher eine entsprechende Gleichsetzung trotz der drohenden Strafbarkeitslücken mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG vielfach abgelehnt. Diesen Standpunkt teilte auch die 1. Kammer des 2. Senats, da die Subsumtion eines vorsatzlosen Entfernens unter § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB gegen Art. 103 Abs. 2, 2 Abs. 1 GG verstoße.[97] Nach lesenswerten Ausführungen zu grammatischen, historischen und systematischen Erwägungen (die nebenbei zu zeigen scheinen, dass das Gericht – zutreffend – die Wortlautgrenze gerade nicht nur „in der Sprache vorfinden“ und grammatisch begründen will, sondern diese unter Berücksichtigung aller Kanones „zieht“), setzt es auch der teleologischen Auslegung Schranken, wenn es ausführt, dass sich mit dem „Schutzzweck des § 142 StGB (…), die Durchsetzbarkeit zivilrechtlicher Ansprüche der Unfallbeteiligten untereinander zu sichern“, eine ausdehnende Auslegung nicht begründen lässt, da die konkrete Reichweite jedes strafrechtlichen Verbotes „von den tatsächlichen Voraussetzungen“ abhängt und etwaige Schwierigkeiten beim Nachweis dieser Voraussetzungen „nicht durch den Hinweis auf die kriminalpolitische Bedeutsamkeit des Verbots umgangen werden“ dürfen.
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Ganz ähnlich argumentiert das Verfassungsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 2008, in der es sich mit der Frage auseinanderzusetzen (und diese letztlich verneint) hatte, ob ein Kraftfahrzeug als „Waffe“ i.S. des § 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB a.F. gelten könne.[98] Nachdem dies mit anderen Auslegungsargumenten abgelehnt (und damit: ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG angenommen) worden ist, betont die Kammer auch hier wieder, dass nicht etwa unter teleologischen Gesichtspunkten darauf abgestellt werden könne, dass „die Gefährlichkeit der Tatausführung beim Einsatz von Waffen im ‚nicht technischen Sinn‚ und speziell von Kraftfahrzeugen derjenigen beim Einsatz von Waffen im engeren Sinn gleichstehe“, da es „gerade der Sinn des Analogieverbots“ sei, „einer teleologischen Argumentation zur Füllung empfundener Strafbarkeitslücken entgegenzuwirken“.[99] Beide Entscheidungen wenden sich mithin gegen eine Ausdehnung der Strafbarkeit allein aus teleologischen Überlegungen eines weitergehenden Schutzes des durch die Vorschriften geschützten Rechtsguts.[100]
d) Beispiele aus der Rechtsprechung
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– | Die verschärfte Strafandrohung des Forstdiebstahls mittels eines „bespannten Fuhrwerks“ oder eines „Lasttieres“ korrespondiert mit dem erhöhten Schaden durch das Fortschaffen größerer Mengen, das durch die Hilfsmittel erreicht werden kann. In BGHSt 10, 375 entschied der 1. Strafsenat daher, dass auch die Nutzung eines Kraftfahrzeugs, das zum selben Zweck eingesetzt wird, eine Bestrafung aus § 3 Abs. 1 Ziff. 6 PreußFDG begründen kann. Das Beispiel zeigt zugleich eindrucksvoll, dass eine teleologische Auslegung in besonderer Weise gefährdet ist, den Garantien des Art. 103 Abs. 2 GG nicht immer gerecht zu werden. |
– | Ist auch der Dieb, der seiner Entdeckung zuvorkommt, indem er das nichtsahnende Opfer niederschlägt, „auf frischer Tat betroffen“ und damit nach § 252 StGB gleich einem Räuber zu bestrafen? Laut BGHSt 26, 95 steht hinter der Gleichstellung die Annahme, dass der gewalttätige Dieb auch dann gegen das Opfer vorgegangen wäre, wenn es ihn vor Vollendung des Diebstahls ertappt hätte. Das fragliche Merkmal „auf frischer Tat betroffen“ bilde nur den zeitlichen Rahmen für die Vergleichbarkeit der Situationen. Davon ausgehend konstatieren die Richter, dass ein „Dieb, der Gewalt übt, unmittelbar bevor er bemerkt wird, … genau so behandelt werden (muss) wie einer, der zuschlägt, nachdem er bemerkt wurde“ (S. 97). |
– | Der Tatbestand der Zuhälterei (§ 181a StGB a.F.) kann nach BGHSt 4, 316 nicht bereits dann als erfüllt angesehen werden, „wenn der Mann nur überhaupt mit der Dirne eine gemeinsame Wirtschaft geführt habe“ (S. 319). Im Führen einer gemeinsamen Kasse liege nicht automatisch das vom Gesetzeswortlaut geforderte Ausbeuten des unsittlichen Erwerbs zum Bestreiten des Lebensunterhalts. Eine zu weite Auslegung der Norm würde zu untragbaren Ergebnissen führen, weil dann bereits jede Zuschussleistung der Frau zum gemeinsamen Haushalt den Mann zum Zuhälter i.S.d. Vorschrift machen würde, auch wenn die „gemeinsame Wirtschaft“ partnerschaftlich ohne ausbeuterische Absichten geführt würde. |
– | In BGHSt 14, 240 stellen die Richter das Erfordernis einer vom herkömmlichen Verständnis abweichenden Auslegung des bedingten Vorsatzes für § 164 Abs. 5 StGB a.F. fest. Die Vorschrift stellte die falsche Anschuldigung auch für den Fall unter Strafe, dass sie nicht wider besseres Wissen, aber vorsätzlich oder leichtfertig begangen wurde. Dass derjenige, der den Betroffenen nur möglicherweise für unschuldig hält, den Verdacht aber trotzdem nicht verschweigen will und deshalb die Anzeige macht, nicht bestraft werden soll, „liegt auf der Hand“ (S. 256). Es komme daher nicht auf die übliche Definition von bedingtem Vorsatz an, sondern darauf, ob der Täter den Betroffenen auch dann angezeigt hätte, wenn er dessen Unschuld gekannt hätte. |
II. Die „Konformauslegungen“ – Bedeutung, Arten und Abgrenzung
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Obwohl nicht zum „klassischen Methodenquartett“ gehörend ebenfalls bereits „klassisch“ (jedenfalls i.S. von „dem Grunde nach anerkannt und oft behandelt“) sind die „Konformauslegungen“. Die längste Tradition hat hier die verfassungskonforme Auslegung (sogleich 1.), die theoretisch im Strafrecht (mindestens[101]) in gleicher Weise von Bedeutung ist wie in anderen Rechtsgebieten, greifen doch strafrechtliche Sanktionen ebenso wie auch schon die strafrechtlichen Verhaltensnormen allemal „durchweg in die grundrechtlich gesicherten Freiheiten einzelner ein (…)“.[102] Eine solche verfassungskonforme Auslegung in ihrem ursprünglichen Verständnis ist abzugrenzen von einer nur verfassungsorientierten Auslegung auch diesseits der Verfassungswidrigkeit (im Anschluss 2. [Rn. 50 ff.]). Ein – mutatis mutandis – ähnliches Verhältnis lässt sich dann auch für andere Formen der Konformauslegung beschreiben (dazu abschließend 3. [Rn. 62 ff.]).
1. Die verfassungskonforme Auslegung
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Als verfassungskonforme Auslegung wird die Überlegung bezeichnet, dass unter mehreren grds. denkbaren Auslegungsergebnissen im Zweifelsfall demjenigen der