Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
sondern mit anderen Auslegungsargumenten kombiniert wird.[26] Exemplarisch: Wenn im Streit um das Erfordernis eines „Absatzerfolges“ bei der Handlungsvariante des „Absetzens“ bzw. „Absetzen-Helfens“ in § 259 Abs. 1 StGB teilweise behauptet wird, schon die Formulierung „wer (. . .) absetzt (. . .)“ zeige, dass eine Vollendung nur bei Eintritt eines Absatzerfolges vorliegen kann, kann demgegenüber eingewandt werden, dass „absetzen“ ohne Weiteres auch ein Verhalten als solches i.S. eines „auf Absatz gerichteten Tätigwerdens“ beschreiben kann. Zwar verwendet der Gesetzgeber zugegebenermaßen Verben auch sonst nicht selten in dem Sinne, dass ein bestimmter Zustand hergestellt wird (so etwa das „töten“ in § 212 StGB) – indes überschreitet dieses Argument bereits die Grenzen einer rein grammatischen Auslegung, und in der Begründung seines Rechtsprechungswandels zum Merkmal „Absetzen“[27] schließt der BGH seinen Wortlauterwägungen systematische, teleologische und historisch-genetische Argumente nach.
d) Beispiele aus der Rechtsprechung
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– | In BGHSt 33, 398 entschied der 1. Strafsenat, dass die Maßregel nach § 66 Abs. 2 StGB nicht ausgesprochen werden darf, wenn der Angeklagte zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, da die für die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorausgesetzte Verurteilung „zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren“ nicht vorläge. Die Argumentation des GBA, über § 57a StGB sei die lebenslange Freiheitsstrafe wenigstens faktisch zu einer zeitigen umgestaltet worden, überzeugte den Senat nicht. |
– | Ist eine Urkunde auch dann „unecht“ i.S.d. § 267 StGB, wenn sich der berechtigte Aussteller am Ausstellungsdatum zu schaffen macht? In BGHSt 9, 44 wird für diese Frage allein die Überprüfung anhand des allgemeinen Sprachgebrauchs als zielführend angesehen: Danach komme es für die Echtheit oder Unechtheit einer Urkunde nur auf die Person des Ausstellers an. Folglich sei z.B. das Rückdatieren einer Urkunde nicht von der Strafvorschrift erfasst. |
– | Laut BGHSt 45, 211 (216) trifft die Strafschärfung des § 306b Abs. 2 Nr. 2 StGB auch denjenigen Täter, der den Brand legt, um betrügerisch die Versicherungssumme aus dem Schadensfall zu erlangen und damit „in der Absicht handelt, eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken“, auch wenn er die spezifischen Gefahren des Brandes, die der hohen Strafandrohung zu Grunde liegen, dafür nicht besonders ausnutzt. Der Versicherungsbetrug ist gerade regelmäßig die „andere Straftat“, die durch die Brandstiftung ermöglicht werden soll. |
– | Sowohl mit grammatischen als auch mit historischen Argumenten beantwortete der BGH die Frage, ob falsches Geld als echt in Verkehr bringt, wer es einem eingeweihten Mittelsmann überreicht (BGHSt 29, 311). Da im konkreten Fall nur eine Bestrafung aus § 147 StGB in Frage kam, wurde zunächst festgestellt, dass die Kenntnis des Mittelsmanns von der Falschheit des Geldes das Tatbestandsmerkmal „als echt in Verkehr bringen“ nach allgemeinem Sprachgebrauch „final gesehen“ nicht ausschließt (S. 313). Mit Argumenten aus der Entstehungsgeschichte überwand der Senat sodann die sprachlich-systematische Erwägung, dass das Fehlen der Unterscheidung zwischen Inverkehrbringen als echt und dem Ermöglichen eines solchen Inverkehrbringens aus § 146 Abs. 1 Nr. 1 StGB in § 147 StGB darauf hindeute, dass der Gesetzgeber Fälle der zweiten Alternative, zu der auch der konkrete Sachverhalt zuzuordnen war, nicht erfasst sehen wollte. |
e) Exkurs: „Grammatische Auslegung“ und „Regeln der Grammatik“
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Üblicherweise geht es bei der „grammatischen Auslegung“ im Schwerpunkt um die Verwendungsweise von Wörtern – und nicht um die „Grammatik“ im Satz (weshalb auch der oft zu lesende Alternativbegriff der „grammatikalischen Auslegung“ missverständlich ist). Freilich können aber im Einzelfall auch einmal etwa die Satzkonstruktion oder andere Fragen der Grammatik im Satz als Argument herangezogen werden. Auf den ersten Blick haben diese – vergleichsweise seltener beleuchteten – Fälle gegenüber der „üblichen Verwendungsweise“ ein größeres Potential zur Einschränkung der Deutungsmöglichkeiten. Denn auch wenn (insbesondere bei einer „lebenden“ Sprache) eine Grammatik gewiss nicht immer nur präskriptiv, sondern zum Teil auch deskriptiv zu verstehen ist bzw. auch grammatikalische Strukturen hinsichtlich des Empfindens ihrer Korrektheit bzw. Inkorrektheit Änderungen unterworfen sind, wird man einer Grammatik eine gewisse Regelhaftigkeit nicht absprechen können. Zwingende normative Kraft für die Beantwortung von Rechtsfragen hat diese Regelhaftigkeit aber auch nicht in allen Fällen, wie anschaulich an der Verwendung des Plurals bei der Beschreibung von Tatobjekten gezeigt werden kann:[28]
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In nicht wenigen Fällen (z.B. § 152a StGB [„falsche Vordrucke für Euroschecks“, „inländische oder ausländische Zahlungskarten, Schecks oder Wechsel“, „Zahlungskarten mit Garantiefunktion oder Euroscheckvordrucke“] §§ 174 ff. StGB [sexuelle Handlungen], § 132a StGB [Amts- oder Dienstbezeichnungen usw.], § 133 StGB [Schriftstücke oder andere bewegliche Sachen] § 168 StGB [Teile des Körpers] oder § 306 ff. StGB [Brandstiftungsobjekte, z.B. „Gebäude“, „Wälder“, „Moore“]) sind die Tatobjekte im Plural beschrieben, und insbesondere für § 152a StGB ist auch von einer frühen Auffassung vertreten worden, eine Strafbarkeit nach dieser Vorschrift sei nur anzunehmen, wenn mehrere falsche Euroscheckformulare oder Zahlungskarten hergestellt werden,[29] da hier in erster Linie der professionelle Fälscher erfasst werden soll.[30] Die gegenteilige h.M. für (mittlerweile) alle einschlägigen Tatbestände lässt sich nun jedenfalls nicht durch die Überlegung begründen, dass „ein Tatobjekt“ gleichsam als „Teilmenge“ in der durch den Plural formulierten Voraussetzung „mehrere Tatobjekte“ umfasst wäre. Da die straftatbestandliche Verhaltensumschreibung als Ausfluss des Grundsatzes nulla poena sine lege gleichsam die „Untergrenze“ bzw. „Minimalvoraussetzung“ strafbaren Verhaltens in Abgrenzung zum weiten Bereich des straflosen (und sei es im Einzelfall auch noch so verwerflichen) Verhaltens beschreibt, gilt dieser „Erst-Recht-Schluss“ nur umgekehrt. Und auch wer anerkennt, dass semantische Grenzen der in Gesetzestexten verwendeten Begriffe unscharf sind (vgl. o.), wird die grundlegende Unterscheidung zwischen „eins“ und „mehrere“ durch die Verwendung des Plurals als vergleichsweise eindeutig getroffen anerkennen müssen.
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Der Grund dafür, dass jedenfalls die Auslegungsergebnisse der h.M. zutreffend sind (und damit die „Regeln der Grammatik“ bei der „grammatischen Auslegung“ zumindest relativiert werden können), liegt anderswo: Schon ganz einfache Beispiele aus dem Alltag machen intuitiv deutlich, dass die Reduzierung der Verwendung des Plurals in bestimmten Regelsätzen auf zwingend mehrere Objekte so klar auch nicht ist: Selbst wer als Elternteil auf Grund eines intensiven Jurastudiums durch und durch im Gedankengut des nulla poena-Grundsatzes sozialisiert ist, dürfte keine Bedenken dagegen haben, in der Aufforderung an seine Kinder, „Gulasch nicht mit den Händen zu essen“ auch das Benutzen nur der linken oder nur der rechten Hand allein als verboten erfasst zu sehen. Nämliches gilt für die Aufforderung „keine Haustiere mit ins Bett zu nehmen“ auch dann, wenn der Nachwuchs nur den Hund oder nur die Katze und nicht alle beide in seinem Bett schlafen lässt. Dass beide Beispiele nicht dem Strafrecht, sondern Regeln des familiären Zusammenlebens entnommen sind, spielt hier zunächst einmal keine Rolle, da das entsprechende Verständnis von „nicht mit den Händen essen“ bzw. „keine Tiere mit ins Bett nehmen“ nicht etwa auf dem laxeren Umgang mit solchen mündlich gesetzten Regeln beruht, sondern schlicht darauf, dass man die Reichweite der genannten Regelungen mit einer gewissen Evidenz im hier genannten Sinne verstehen wird. An der weitgehenden „Eindeutigkeit“ der grammatikalischen Regel kann also kein Zweifel sein – ebenso wenig aber daran, dass die Verwendung des Plurals für das spontane und intuitive Verständnis der Vorschrift letztlich keine tragende Bedeutung hat.
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