Handbuch des Strafrechts. Jan C. Joerden
III.Wirkungen bloßer Körperlichkeit oder körperlicher Handlungsunfähigkeit112 – 114
IV.Geschehnisse im Zustand der Bewusstlosigkeit115 – 120
V.Reflex- und Schockreaktionen, Automatismen, Affekttaten121 – 126
VI.Besitzdelikte127, 128
6. Abschnitt: Die Straftat › § 28 Handlung › A. Die Funktionen des Handlungsbegriffs
A. Die Funktionen des Handlungsbegriffs
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Dem Handlungsbegriff sind in der deutschen Strafrechtsdogmatik im Wesentlichen drei Funktionen zugewiesen worden. Erstens haben die „kausale“ und die „finale“ Handlungslehre dem Handlungsbegriff eine für den Aufbau des Verbrechenssystems (und damit auch für den Inhalt von Unrecht und Schuld) zentrale Rolle beigemessen. Der Umstand, dass die finale Handlungslehre aus ihrer Konzeption auch weitreichende praktische Folgerungen im Bereich des Irrtums und der Teilnahme abgeleitet hat, hat die Handlungslehre zeitweilig (besonders um die Mitte des 20. Jahrhunderts) in das Zentrum der strafrechtlichen Grundlagendiskussion gerückt.
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Neben diese systematische Funktion tritt zweitens die Anknüpfungsfunktion des Handlungsbegriffs. Er soll ein allen Erscheinungsformen strafbaren Verhaltens gemeinsames Kriterium liefern, an das die stufenweise zu prüfenden Bewertungen der Handlung (Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit, Schuld) angeschlossen werden können.
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Aus der Anknüpfungsfunktion der Handlung ergibt sich drittens ihre Filterfunktion, durch die alle von Menschen ausgehenden Wirkungen, die dem Anknüpfungskriterium nicht entsprechen, aus dem Bereich strafrechtlicher Prüfung von vornherein ausgeschieden werden.
6. Abschnitt: Die Straftat › § 28 Handlung › B. Die systematische Funktion des Handlungsbegriffs
I. Die kausale Handlungslehre
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Nach dem kausalen Handlungsbegriff, der vor allem auf Franz von Liszt (1851–1919), Ernst von Beling (1866–1932) und Gustav Radbruch (1878–1949) zurückgeht, ist Handlung „die auf menschliches Wollen zurückführbare Bewirkung einer Veränderung in der Außenwelt“[1]. Das „Wollen“, das auch als „Willkürakt“ oder als „willkürliches Verhalten“ bezeichnet wurde, wird dabei vom Willensinhalt gelöst, der als für das Vorliegen einer Handlung gleichgültig beurteilt wird. Das von diesem Handlungsbegriff verlangte Wollen setzt nur voraus, dass das Verhalten „frei von mechanischem oder physiologischen Zwang durch Vorstellungen motiviert wird“[2]. In entsprechender Weise verstand Beling[3] die Handlung als „eine vom Willen überhaupt getragene Körperbewegung oder Regungslosigkeit“.
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Auf diesen Grundgedanken beruht das sog. klassische Verbrechenssystem, das den Tatbestand als eine „gewillkürte“ objektive und wertfreie Erfolgsverursachung verstand und alle subjektiven Elemente des Deliktsgeschehens, vor allem den Vorsatz, der Schuld zuwies. Auch Radbruch[4] votierte für einen Handlungsbegriff, „der lediglich Kausalität des Willens für die Tat fordert und die Frage, welches der Inhalt des Wollens war, gänzlich der Schuldfrage zuweist“. Die Unterscheidung der zentralen Verbrechenskategorien „Unrecht“ und „Schuld“ nach objektiven und subjektiven Deliktselementen, die das klassische System kennzeichnet, ist also unmittelbar aus dem kausalen Handlungsbegriff abgeleitet.
II. Der finale Handlungsbegriff
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Dem trat die von Hans Welzel (1904–1977) begründete finale Handlungslehre entgegen, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts in Deutschland und international erhebliche Resonanz gefunden hat. Für Welzel ist die menschliche Handlung „Ausübung der Zwecktätigkeit. Handlung ist darum ‚finales‘, nicht lediglich ‚kausales‘ Geschehen.“[5] Die Finalität oder Zweckhaftigkeit der Handlung beruhe darauf, dass der Mensch sich „verschiedenartige Ziele setzen und sein Tätigwerden auf diese Zielerreichung hin planvoll lenken kann“. Es genügt daher dieser Konzeption für die Annahme einer Handlung nicht, dass das Geschehen überhaupt auf einem irgendwie gearteten Wollen beruht. Die Handlung umfasst vielmehr auch den konkreten Erfolg und die zu seiner Erreichung eingesetzten Mittel. Der Vorsatz ist also schon Bestandteil der Handlung.
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Unrecht und Schuld unterscheiden sich danach nicht mehr nach den Merkmalen des Objektiven und Subjektiven. Vielmehr setzt das Unrecht neben der Verursachung des Erfolges immer auch die fehlerhafte Willensbildung (Vorsatz oder Sorgfaltswidrigkeit) voraus, während die Schuld durch die Vorwerfbarkeit gekennzeichnet wird.
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Aus der dadurch bedingten Verschiebung des Vorsatzes von der Schuld in den Tatbestand hat die finale Handlungslehre erhebliche praktische Konsequenzen abgeleitet. Da das Unrechtsbewusstsein kein Bestandteil der Finalsteuerung ist, ist es keine Voraussetzung des Vorsatzes. Sein Fehlen kann also – anders als die sog. Vorsatztheorie angenommen hatte – nicht den Vorsatz, sondern lediglich im Falle fehlender Vorwerfbarkeit die Schuld ausschließen. Diese sog. Schuldtheorie ist vom BGH[6] und vom Gesetzgeber des Allgemeinen Teils (1975) übernommen worden (§ 17 StGB). Auch das vom Gesetzgeber aufgestellte Erfordernis, dass jede Teilnahme eine vorsätzliche Haupttat voraussetzt (§§ 26, 27 StGB), ist aus der Zugehörigkeit des Vorsatzes zum Tatbestand abgeleitet worden.
III. Stellungnahme
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Nach heutigem Verständnis ist die Bedeutung des Handlungsbegriffs durch die Befürworter seiner systematischen Funktion überschätzt worden. Richtigerweise kann der Handlungsbegriff den Aufbau des Strafrechtssystems und konkrete Problemlösungen nicht präjudizieren.
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Das gilt zunächst für den kausalen Handlungsbegriff. Eine „gewillkürte Außenweltveränderung oder -nichtveränderung“ bietet keine Grundlage für die Annahme einer Tatbestandserfüllung. Denn die Tatbestandshandlung ist ohne ihre subjektiven Elemente und ohne ihre soziale Sinndimension nicht sachgerecht erfassbar.
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Es gibt – um dies an zwei zentralen Tatbeständen zu verdeutlichen – keine „objektive“ Diebstahls- oder Betrugshandlung. Vielmehr sind Zueignungsabsicht, Täuschung und Bereicherungsabsicht wie