Handbuch des Strafrechts. Jan C. Joerden

Handbuch des Strafrechts - Jan C. Joerden


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ist bisher nicht gelungen, Einigkeit darüber zu erzielen, wie ein solcher Handlungsbegriff zu bestimmen ist. Denn er muss notwendigerweise wegen der Vielfalt seiner Erscheinungsformen abstrakt sein, gleichzeitig aber so viel Inhalt haben, dass er zu den rechtlichen Wertungsprädikaten hinleitet.

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      Dem soll im Folgenden nachgegangen werden. An die kritische Überprüfung der wichtigsten in der Literatur vertretenen Handlungsbegriffe soll sich der eigene Vorschlag anschließen.

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      Der Begriff des Verhaltens ist auch inhaltlich nicht aussagekräftiger als der der Handlung. Seine Bedeutung erschöpft sich in der Terminologie. Wenn man die „Handlung“ als Oberbegriff für alle deliktischen Erscheinungsformen ansieht, muss man Begehungs- und Unterlassungshandlungen anerkennen. Wenn man den Begriff der Handlung nicht auf Unterlassungen anwenden will und stattdessen von Begehungs- und Unterlassungsverhalten spricht, hat man lediglich ein Wort gegen ein anderes ausgetauscht. Man hat dann aber kein gemeinsames inhaltliches Kriterium für das gefunden, was als „Handlung“ oder „Verhalten“ bezeichnet wird. Ersetzt man den Begriff der Handlung durch den des Verhaltens, bleibt also die Frage nach einem inhaltlichen Verhaltenskriterium in derselben Weise offen wie beim Handlungsbegriff.

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      Die Charakterisierung der „Handlung“ als „Verhalten“ führt also nicht weiter.

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      Diese Lösung hat den Vorzug, dass sie mit der Willentlichkeit ein den meisten Fällen von Vorsatz, Fahrlässigkeit und Unterlassung gemeinsames Merkmal benennt. Auch z.B. eine fahrlässige Tötung (etwa durch ein verkehrswidriges Überholmanöver) beruht ja auf einem willentlichen Verhalten (auch wenn dieser Wille nicht auf eine Todesverursachung gerichtet war). Ebenso sind die meisten Unterlassungstaten (z.B. die unterlassene Hilfeleistung) von einem Willen zum Untätigbleiben getragen.

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      Ein auf die Willentlichkeit gestützter Handlungsbegriff ist außerdem insofern leistungsfähig, als er Handlungen, die keiner Willenskontrolle unterliegen (z.B. Bewegungen im Schlaf oder Delirium, Reflexhandlungen, Auswirkungen der vis absoluta u.ä.) aus dem Begriff der Handlung ausschließt und dadurch seiner „Filterfunktion“ in weitgehendem Maße gerecht wird. Daraus wird die Beliebtheit verständlich, die der „natürliche Handlungsbegriff“ auch heute noch genießt.

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      Gleichwohl hat dieser Handlungsbegriff Schwächen, die ihn als Anknüpfungskriterium für die strafrechtssystematischen Bewertungsprädikate untauglich machen.

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      Zunächst erfasst der Begriff der Willentlichkeit nicht alle Erscheinungsformen strafbaren Verhaltens. So ist bei unbewusst fahrlässigen Unterlassungen ein Wille des Delinquenten nicht aufweisbar. Wenn ein Bahnbeamter eine Weichenstellung vergisst und dadurch einen Zugzusammenstoß mit vielen Toten herbeiführt, fehlt es bei der ihm vorzuwerfenden fahrlässigen Tötung an einem willensgetragenen Verhalten.

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      Aber das überzeugt nicht. Denn erstens kann sogar das Bewusstsein fehlen, wenn etwa der Beamte sorgfaltswidrigerweise eingeschlafen ist. Zweitens ist das Bewusstsein noch keine Willensäußerung. Wenn der Beamte über irgendetwas nachsinnt und darüber das Stellen der Weiche vergisst, kommt darin kein auf einen Erfolg gerichteter Wille zum Ausdruck. Und drittens kann ein die Vergesslichkeit auslösender Wille – z.B. der Entschluss, demnächst einen Arzt aufzusuchen – auch die Prädikate der Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld nicht tragen. Denn nicht dieser Wille, sondern seine Vergesslichkeit ist Gegenstand der strafrechtlichen Bewertung.


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