Handbuch des Strafrechts. Jan C. Joerden
ist bisher nicht gelungen, Einigkeit darüber zu erzielen, wie ein solcher Handlungsbegriff zu bestimmen ist. Denn er muss notwendigerweise wegen der Vielfalt seiner Erscheinungsformen abstrakt sein, gleichzeitig aber so viel Inhalt haben, dass er zu den rechtlichen Wertungsprädikaten hinleitet.
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Nicht wenige Autoren halten die Lösung dieser Aufgabe für unmöglich. Sie schlagen daher vor, auf einen vortatbestandlichen Handlungsbegriff ganz zu verzichten und den Tatbestand zum Grundbegriff des Verbrechenssystems zu machen. Eine solche Lösung hatte schon Radbruch in seinen späteren Jahren vorgeschwebt.[14] Gallas[15] hat dann in einflussreichen Darlegungen ausgeführt:[16] „Alle Versuche …, … ein dem Begehungs- und Unterlassungsdelikt gemeinsames Moment ausfindig zu machen, an das … die strafrechtliche Wertung allererst anzuknüpfen hätte, … sind gescheitert.“ Er will daher den Handlungsbegriff auf die „negative Funktion“, die hier als „Filterfunktion“ bezeichnet wird, beschränken. Mit Hilfe des Handlungsbegriffs lasse sich nur „ausscheiden, was überhaupt nicht Handlung sein kann …“.
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Diese Meinung wird auch gegenwärtig noch vertreten. „Vielfach wird heute die Leistungsfähigkeit eines dem Tatbestand vorgelagerten Handlungs-Begriffs überhaupt bezweifelt“, heißt es bei Fischer.[17] So lehren etwa Krey/Esser[18] einen „Verzicht auf die Bildung eines Handlungsbegriffs als Oberbegriff für alle Begehungs- und Unterlassungsdelikte“ und seine „Beschränkung auf eine rein negative Funktion (Ausscheidung von Nichthandlungen)“.
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Auch wenn man die Bedeutung des Problems nicht überschätzt, sollte man jedoch auf die Herausarbeitung eines positiven Handlungskriteriums nicht verzichten. Denn wenn man von tatbestandsmäßiger Handlung spricht, muss die Tatbestandsmäßigkeit eine Eigenschaft der Handlung und nicht die Handlung selbst sein. Schon Welzel[19] hat die Notwendigkeit betont, das „sachliche Substrat zu finden, an das die Rechtsordnung ihre Wertprädikate anknüpft …. Hierfür aber wäre ein Handlungsbegriff mit nur ‚negativer Funktion‘ völlig ungeeignet.“ Wenn man, wie es allgemein anerkannt ist, bestimmte menschliche Regungen und Wirkungen als „Nichthandlungen“ aus der Deliktsprüfung ausscheiden will, muss das, was als Handlung übrig bleibt, sich notwendig durch irgendwelche Merkmale auszeichnen, die es von den Nichthandlungen abhebt.
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Dem soll im Folgenden nachgegangen werden. An die kritische Überprüfung der wichtigsten in der Literatur vertretenen Handlungsbegriffe soll sich der eigene Vorschlag anschließen.
II. Handlung als menschliches Verhalten
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Es liegt nahe, die Gemeinsamkeit von Tun und Unterlassen im Begriff des menschlichen Verhaltens zu finden. „Ausgangspunkt jeder Strafbarkeit ist stets ein konkretes menschliches Verhalten“, sagt etwa B. Heinrich.[20] Aber der Verhaltensbegriff enthält kein gemeinsames Sachkriterium für Tun und Nicht-Tun, sondern ist nur eine zusammenfassende Bezeichnung für heterogene deliktische Erscheinungsformen. Tun und Nicht-Tun bleiben Gegensätze, auch wenn man sie einem gemeinsamen Sammelbegriff unterstellt. Schon Radbruch[21] hat dargelegt, dass Begehung und Unterlassung im Hinblick auf das äußere Verhalten überhaupt „nicht einem gemeinsamen Oberbegriff unterstellt zu werden vermögen“, sondern sich wie „Position und Negation, a und non a“ zueinander verhalten.
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Der Begriff des Verhaltens ist auch inhaltlich nicht aussagekräftiger als der der Handlung. Seine Bedeutung erschöpft sich in der Terminologie. Wenn man die „Handlung“ als Oberbegriff für alle deliktischen Erscheinungsformen ansieht, muss man Begehungs- und Unterlassungshandlungen anerkennen. Wenn man den Begriff der Handlung nicht auf Unterlassungen anwenden will und stattdessen von Begehungs- und Unterlassungsverhalten spricht, hat man lediglich ein Wort gegen ein anderes ausgetauscht. Man hat dann aber kein gemeinsames inhaltliches Kriterium für das gefunden, was als „Handlung“ oder „Verhalten“ bezeichnet wird. Ersetzt man den Begriff der Handlung durch den des Verhaltens, bleibt also die Frage nach einem inhaltlichen Verhaltenskriterium in derselben Weise offen wie beim Handlungsbegriff.
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Die Charakterisierung der „Handlung“ als „Verhalten“ führt also nicht weiter.
III. Der natürliche Handlungsbegriff
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Die heute wohl überwiegende Meinung konkretisiert daher den Verhaltensbegriff durch den Rückgriff auf das der kausalen Handlungslehre entnommene Merkmal der Willentlichkeit. So heißt es bei Fischer:[22] „In der Rechtspraxis wird idR ein sog. natürlicher Handlungsbegriff verwendet: Er begreift Handlung als willensgetragenes menschliches Verhalten.“ Auch in der wissenschaftlichen Literatur definieren beispielsweise Baumann/Weber/Mitsch/Eisele[23] und Walter[24] die Handlung übereinstimmend als „willensgetragenes menschliches Verhalten“.
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Diese Lösung hat den Vorzug, dass sie mit der Willentlichkeit ein den meisten Fällen von Vorsatz, Fahrlässigkeit und Unterlassung gemeinsames Merkmal benennt. Auch z.B. eine fahrlässige Tötung (etwa durch ein verkehrswidriges Überholmanöver) beruht ja auf einem willentlichen Verhalten (auch wenn dieser Wille nicht auf eine Todesverursachung gerichtet war). Ebenso sind die meisten Unterlassungstaten (z.B. die unterlassene Hilfeleistung) von einem Willen zum Untätigbleiben getragen.
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Ein auf die Willentlichkeit gestützter Handlungsbegriff ist außerdem insofern leistungsfähig, als er Handlungen, die keiner Willenskontrolle unterliegen (z.B. Bewegungen im Schlaf oder Delirium, Reflexhandlungen, Auswirkungen der vis absoluta u.ä.) aus dem Begriff der Handlung ausschließt und dadurch seiner „Filterfunktion“ in weitgehendem Maße gerecht wird. Daraus wird die Beliebtheit verständlich, die der „natürliche Handlungsbegriff“ auch heute noch genießt.
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Gleichwohl hat dieser Handlungsbegriff Schwächen, die ihn als Anknüpfungskriterium für die strafrechtssystematischen Bewertungsprädikate untauglich machen.
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Zunächst erfasst der Begriff der Willentlichkeit nicht alle Erscheinungsformen strafbaren Verhaltens. So ist bei unbewusst fahrlässigen Unterlassungen ein Wille des Delinquenten nicht aufweisbar. Wenn ein Bahnbeamter eine Weichenstellung vergisst und dadurch einen Zugzusammenstoß mit vielen Toten herbeiführt, fehlt es bei der ihm vorzuwerfenden fahrlässigen Tötung an einem willensgetragenen Verhalten.
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Das bestreitet zwar Walter, wenn er sagt:[25] „… das Vergessen ist nicht Abwesenheit eines jeden Gedankens; der Täter wird schließlich nicht bewusstlos. Das Vergessen bezieht sich allein auf das Sorgfaltserfordernis und die Möglichkeit des deliktischen Erfolges. Im Übrigen ist das Bewusstsein des Täters ohne Abstriche tauglich, seinem Verhalten strafrechtliche Bedeutung zu geben.“
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Aber das überzeugt nicht. Denn erstens kann sogar das Bewusstsein fehlen, wenn etwa der Beamte sorgfaltswidrigerweise eingeschlafen ist. Zweitens ist das Bewusstsein noch keine Willensäußerung. Wenn der Beamte über irgendetwas nachsinnt und darüber das Stellen der Weiche vergisst, kommt darin kein auf einen Erfolg gerichteter Wille zum Ausdruck. Und drittens kann ein die Vergesslichkeit auslösender Wille – z.B. der Entschluss, demnächst einen Arzt aufzusuchen – auch die Prädikate der Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld nicht tragen. Denn nicht dieser Wille, sondern seine Vergesslichkeit ist Gegenstand der strafrechtlichen Bewertung.