Handbuch des Strafrechts. Jan C. Joerden
aber nichts daran, dass derjenige, der einen solchen Kausalverlauf anstößt, eine Handlung vorgenommen hat (auch wenn diese Handlung nicht tatbestandsmäßig ist). Hier schließt die Unvermeidbarkeit also zwar den Tatbestand, aber nicht das Vorliegen einer Handlung aus. Unvermeidbar ist auch ein Erfolg, der durch einen Geisteskranken herbeigeführt wird oder auf einem unerkennbaren Verbotsirrtum beruht. Hier liegt aber nicht nur eine Handlung, sondern sogar eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung vor. Nur die Schuld ist ausgeschlossen.
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Der spezifische Grund der Unvermeidbarkeit, der nicht nur die strafrechtliche Zurechnung im Rahmen irgendeiner Deliktskategorie, sondern gerade die Zurechnung zur Handlung ausschließt, geht also in den negativen Handlungsbegriff nicht ein.
V. Der soziale Handlungsbegriff
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Auch ein sozialer Handlungsbegriff ist in verschiedenen Spielarten weitverbreitet. Eberhard Schmidt[38] hatte schon 1932 unter bewusster Distanzierung von seinem Lehrer Franz von Liszt geschrieben: „‚Handlung‘ interessiert uns nicht als physiologisches Phänomen unter naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten, sondern als soziales Phänomen in seiner ‚Wirkungsrichtung auf die soziale Wirklichkeit hin‘.“ Das führte ihn zu der Definition der Handlung als „willkürliches Verhalten zur sozialen Außenwelt“[39]. Ganz ähnlich ist für Engisch[40] Handlung „das willkürliche Bewirken berechenbarer sozialerheblicher ‚Folgen‘“. Maihofer[41] beurteilt als Handlung „jedes objektiv beherrschbare Verhalten mit Richtung auf einen objektiv voraussehbaren sozialen Erfolg“.
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Auch in der Literatur der Gegenwart ist dieser Handlungsbegriff lebendig. Für Jescheck[42] ist Handlung „sozialerhebliches menschliches Verhalten“. Beulke[43] betont in der am meisten verbreiteten Darstellung des Allgemeinen Teils: „Den Vorzug verdient die soziale Handlungslehre …“ Er schließt dann die bei Fn. 29 wiedergegebene Definition an, die auf das „sozialerhebliche Verhalten“ abhebt.
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Die soziale Handlungslehre[44] hat den einen großen Vorzug, dass sie sich, wie schon die frühe Stellungnahme Eberhard Schmidts deutlich macht, von der Fixierung des Handlungsbegriffs auf naturalistische Kriterien löst und den sozialen Bedeutungsgehalt des Geschehens in das Zentrum ihrer Definition rückt. Als allgemeiner Handlungsbegriff ist er gleichwohl nicht geeignet. Er ist erstens zu weit, zweitens aber auch zu eng, drittens zu unbestimmt und viertens zu sehr mit der rechtlichen Bewertung des Geschehens verquickt.
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Er ist zunächst zu weit. Denn er umfasst auch menschliche Wirkungen, die aus dem Handlungsbegriff gerade ausgeschieden werden sollen. Schädigungen durch unbeherrschbare Reflexe, Folgen einer vis absoluta oder eine Unfallverursachung durch das bewusstlose Herumrollen eines Betrunkenen auf der Fahrbahn sind durchaus sozialerheblich. Eine Handlung liegt solchen Erfolgen aber nicht zugrunde. Deshalb sehen sich die Vertreter des sozialen Handlungsbegriffs, wie die zitierten Definitionen zeigen, denn auch durchweg veranlasst, eine Anleihe beim natürlichen Handlungsbegriff zu machen und eine Willkürlichkeit oder Beherrschbarkeit des Geschehens zu verlangen. Damit ist aber der Ausgangspunkt des sozialen Handlungsbegriffs schon teilweise preisgegeben.
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Andererseits ist zweitens aber auch der Begriff der Sozialerheblichkeit zu eng. Denn da es auch sozialunerhebliche Handlungen gibt, kann nicht erst die Sozialerheblichkeit ein Verhalten zur Handlung machen. Wenn ich einen Apfel von meinem Obstbaum pflücke, ist das sozial gewiss unerheblich. Aber eine Handlung ist es trotzdem.
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Wenn die Vertreter des sozialen Handlungsbegriffs dies bestreiten, konstruieren sie ähnlich wie die Befürworter des negativen Handlungsbegriffs einen strafrechtsspezifischen Anknüpfungspunkt. Dieser ermöglicht jedoch keine überzeugenden Differenzierungen. Zwar ist tatsächlich jedes strafrechtsrelevante Verhalten sozialerheblich. Warum das Pflücken eines Apfels keine Handlung, dessen Kauf aber – als sozialerhebliches Rechtsgeschäft – eine Handlung sein soll, ist nicht einzusehen.
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Welzel[45] war noch als selbstverständlich davon ausgegangen, dass „Spielen, Spazierengehen, Reiten, Turnen, Tanzen“ menschliche Handlungen seien. Nach der sozialen Handlungslehre dürfte dies nur noch dann gelten, wenn dabei ein Schadensfall eintritt. Denn sonst sind diese Verhaltensweisen, wenn man diesen Begriff nicht überdehnen will, sozial unerheblich. Jäger[46] sagt daher mit Recht: „Die soziale Begriffsbestimmung kennzeichnet daher nicht die Handlung selbst, sondern bei Lichte besehen nur deren Folgen.“
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Das führt auf den dritten Einwand. Der Begriff der Sozialerheblichkeit ist so vage, dass er schon deshalb als Grundstein des Strafrechtssystems ungeeignet ist.
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Puppe[47] sagt: „Sozialerheblich ist fast alles, was auf unserem Planeten geschieht“ und schließt in diesen Begriff auch Naturprozesse ein. Aber selbst wenn man den Begriff auf menschliches Verhalten reduziert, kann man lange ergebnislos darüber nachgrübeln, ob die von Welzel erwähnten Verhaltensweisen nicht vielleicht doch schon unabhängig von etwaigen Folgen Handlungen sind, weil sie als quasi „sportliche“ Betätigungen der Volksgesundheit dienen und damit sozialerheblich sind. Dass man von solchen Überlegungen die Handlungsqualität nicht abhängig machen kann, dürfte klar sein.
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Die Vertreter der sozialen Handlungslehre haben auch fast nie den Versuch gemacht, diesen Begriff näher zu bestimmen. Eine Ausnahme bildet nur Beulke[48] mit der Aussage: „Sozialerheblich ist jedes Verhalten, das die Beziehungen des Einzelmenschen zu seiner Umwelt berührt und nach seinen erstrebten oder unerwünschten Folgen im sozialen Bereich Gegenstand einer wertbezogenen Betrachtung sein kann.“ Danach ist etwa eine Skiabfahrt von einer Anhöhe aus eine Handlung, weil über die Umweltverträglichkeit von Skiliften und landschaftsverändernden Pisten gestritten wird, während das Skiwandern auf gebahnten Wegen keine Handlung ist, weil niemand das kritisch beurteilt. Ein plausibler Handlungsbegriff ergibt sich aus solchen Distinktionen aber nicht.
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Ein vierter Einwand folgt schließlich daraus, dass die Sozialerheblichkeit nicht nur bei Unterlassungen, wo dies in einem noch zu erörternden Umfang unvermeidlich ist, sondern auch bei Begehungstaten in großem Umfang von gesetzgeberischen Wertungen abhängt, so dass der soziale – auch insoweit ähnlich wie der negative – Handlungsbegriff vielfach mit der Tatbestandsmäßigkeit identisch und nicht erst der Anknüpfungspunkt für sie ist.
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So standen z.B. homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen bis 1969 unter Strafe. Damit waren derartige Betätigungen sozialerheblich und Handlungen im Sinne der hier erörterten Konzeption. Seit die Strafbarkeit aufgehoben ist, unterliegt dieses Verhalten, weil es den „sozialen Bereich“ nicht berührt, keiner „wertbezogenen Beurteilung“ mehr. Es ist nicht mehr sozialerheblich und daher auch keine Handlung im Sinne der sozialen Handlungslehre. Abgesehen davon, dass nicht recht verständlich ist, warum bestimmte aktive Betätigungen wegen der Aufhebung ihrer Strafbarkeit keine Handlungen mehr sein sollen, ist die aus dieser Konzeption sich ergebende Identität von Handlung und Tatbestandsmäßigkeit evident.
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Das lässt sich an vielen vergleichbaren Beispielen demonstrieren, selbst im Bereich des Lebensschutzes. In § 218 Abs. 1 S. 2 StGB heißt es: „Handlungen, deren Wirkung vor