Handbuch des Strafrechts. Jan C. Joerden
vergleichbarer Weise meint Otto:[66] „Um das berechtigte Anliegen durchzusetzen, der Grundvoraussetzung strafrechtlicher Haftung, der möglichen Willenssteuerung des Verhaltens, Bedeutung zu verschaffen, bedarf es keiner vortatbestandlichen Handlungslehre. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des konkreten Tatbestandes ist vielmehr jeweils darzutun, ob der Täter durch willensgesteuertes Verhalten die Möglichkeit hatte, den zum Erfolg führenden Kausalverlauf zu beeinflussen. Dies ist der Ausgangspunkt der Erörterung, nicht aber die Prüfung einer Handlung unabhängig vom konkreten tatbestandsmäßigen Verhalten.“
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Andererseits wird weithin eine vortatbestandliche Handlungsprüfung favorisiert, besonders dezidiert etwa von Walter[67] und Baumann/Weber/Mitsch/Eisele[68]. Abwägend formuliert Kühl:[69] „Die Prüfung, ob eine menschliche Handlung überhaupt vorliegt, kann auch in die Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit dieser Handlung integriert werden, sie sollte aber besser als ‚Vorprüfungsstufe‘ vor die Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit ‚geschaltet‘ werden.“
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Der letztgenannten Auffassung ist zuzustimmen. Man kann freilich der Handlung im Rahmen des Strafrechtssystems keine eigenständige Deliktsstufe zuweisen. Denn was den strafrechtlichen Bewertungen vorgelagert und – wenigstens in der Regel – von ihnen unabhängig ist, kann keine Deliktskategorie sein. Wer seinen Rasen mäht, nimmt eine Handlung vor; diese liegt aber natürlich nicht innerhalb eines Deliktssystems. Gerade deswegen sollte jedoch die Frage nach der Vorfindbarkeit einer Handlung vor dem Eintritt in eine Tatbestandssubsumtion geprüft werden, sofern an ihrem Vorliegen Zweifel bestehen können. Für eine Prüfung „vor dem Tatbestand“ sprechen – wo dieser möglich ist – drei Gründe.
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Erstens ist die Frage, ob eine Handlung anzunehmen ist, gegenüber derjenigen nach den Voraussetzungen einer Tatbestandserfüllung logisch vorrangig. Es handelt sich hier gerade nicht, wie Otto meint, um eine „Prüfung der Voraussetzungen des konkreten Tatbestandes“, sondern um ein Element, das allen Tatbeständen und darüber hinaus auch allen personal zurechenbaren Verhaltensweisen eigen ist. Auch der Charakter der Handlung als Verbindungselement zwischen Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld spricht gegen die Zuordnung zu einer dieser Deliktsstufen.
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Zweitens sind die Geschehensverläufe, die durch die Filterfunktion des Handlungsbegriffs ausgeschieden werden sollen, mit dem Zurechnungskriterium des Tatbestandes vielfach gar nicht auszuschließen. Denn auch wer z.B. in einem epileptischen Krampfanfall eine Sache beschädigt, bewegt sich nicht im erlaubten Risiko. Daher müssen auch die Autoren, die das Ausgrenzungsproblem in den Tatbestand verlagern, die Prüfung der Handlung doch derjenigen der Fahrlässigkeitskriterien voranstellen. Sie nehmen also ebenfalls eine Deliktseingangsprüfung vor, verstecken diese aber im Tatbestand und verzichten ohne Anlass auf die Sonderstellung der Handlung als Grund- und Verbindungselement.
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Drittens wird durch die Verlegung der Handlungsprüfung in den Tatbestand auch das Verhältnis von Handlung und Tatbestand verunklart. Denn es gibt, wie oben (Rn. 70 ff.) dargelegt, einzelne Fälle echter Unterlassungen (z.B. die Nichtentrichtung einer Steuer), bei denen erst das gesetzliche Gebot im Falle der Untätigkeit aus einem Nichts eine Persönlichkeitsäußerung und damit eine Unterlassungshandlung macht. Wenn man die Handlungsprüfung in den Tatbestand verlegt, wird diese Sacheinsicht durch eine allgemeine Vermengung von Handlung und Tatbestand verdunkelt.
6. Abschnitt: Die Straftat › § 28 Handlung › D. Die Filterfunktion des Handlungsbegriffs
D. Die Filterfunktion des Handlungsbegriffs
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Während die Anknüpfungsfunktion – die Frage also, wie die Handlung als Substrat rechtlicher Bewertungen „positiv“ zu kennzeichnen ist – bis heute hinsichtlich ihrer Notwendigkeit und Ausgestaltung äußerst umstritten ist, herrscht über die „negative“ Funktion des Handlungsbegriffs, darüber also, dass Nichthandlungen strafrechtlich von vornherein irrelevant sind, weitgehende Einigkeit. Auch Autoren, die auf eine Bestimmung dessen, was „Handlung“ ist, verzichten, wollen doch Nichthandlungen von der weiteren strafrechtlichen Prüfung ausschließen.
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Darüber hinaus stimmen auch die meisten Autoren dahin überein, dass Nichthandlungen Geschehensabläufe sind, die zwar mit einer Person in Zusammenhang stehen, der Beherrschung oder Beherrschbarkeit durch ihren Willen aber nicht unterliegen. In diesem Ergebnis treffen sich der natürliche, der negative, der soziale und auch der personale Handlungsbegriff. Die „Filterfunktion“ ist also vom Streit um die verschiedenen der Anknüpfungsfunktion dienenden Handlungsbegriffe weitgehend unabhängig. Freilich wird der nachfolgende Text zeigen, dass das Kriterium der Persönlichkeitsäußerung nicht selten eine exaktere Abgrenzung ermöglicht als andere Handlungsbegriffe.
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Abweichende Ansichten sind selten. So sagt Michaelowa,[70] eine Handlung sei „jede menschliche Seinsäußerung“, auch wenn es sich um eine bloße Körperwirkung ohne psychischen Anteil handelt. Herzberg[71] meint: „Schlägt jemand im Alptraum seiner neben ihm schlafenden Frau die Nase blutig, dann liegt es … sehr nahe, das ‚Verursachen‘ einer ‚Körperverletzung‘, also das Handlungsmerkmal des § 230 StGB, zu bejahen und erst die Wertung entscheiden zu lassen, dass die Fahrlässigkeit, d.h. die Pflichtverletzung, fehle.“
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Das ist aber keine vertretbare Lösung. Denn wenn man eine Körperverletzungshandlung bejaht, stellt sich diese als Verwirklichung eines unerlaubten Risikos, also als tatbestandsmäßig dar. Denn die Sorgfaltswidrigkeit bezeichnet eine objektive, von den persönlichen Bewandtnissen des Täters unabhängige Bewertung. Höchstens ließe sich die Schuld bestreiten. Aber es erscheint als wenig sinnvoll, den Schlaf wie eine Geisteskrankheit zu behandeln. Denn die Taten eines Geisteskranken oder sonst Schuldlosen sind immerhin Persönlichkeitsäußerungen, auch wenn diese nicht vorwerfbar sind.
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So bleibt die Frage, wo eine Persönlichkeitsäußerung fehlt und deswegen das Vorliegen einer Handlung abzulehnen ist.
I. Gedanken, Gesinnungen, Einstellungen
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Nichthandlungen sind alle innerlich bleibenden Gemütsregungen, soweit diese nicht auf reale Außenweltvorgänge bezogen werden können.[72] „Cogitationis poenam nema patitur“, sagte mit einem heute noch geflügelten Wort schon der altrömische Jurist Ulpian (ca. 170–228 n.Chr.). Zwar lebt im Gedanken die Persönlichkeit des Denkenden, aber es fehlt an einer „Äußerung“ der Persönlichkeit. Ob man mit ähnlicher Sicherheit zu einem Handlungsausschluss kommen kann, wenn man die Handlung auf „Willensimpulse“ und ähnliche Kriterien zurückführt, ist immerhin zweifelhaft.
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Freilich hat der Ausschluss von Gedanken aus dem Handlungsbereich bislang keine große praktische Bedeutung, weil das „forum internum“ Außenstehenden meist ohnehin nicht zugänglich ist. Doch lassen sich Gedanken und Gesinnungen bisweilen aus äußeren Umständen erschließen, wie das mancherorts praktizierte und in Rechtsstaaten verpönte „Gesinnungsstrafrecht“ deutlich genug zeigt. Auch wird die Psychologie der Zukunft wahrscheinlich Bewusstseinsinhalte in größerem