Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht. Peter Behrens
II ist somit gering. Insgesamt schaffen die vorhandenen Abkommen im Verhältnis der EU zur Schweiz aber in wichtigen Bereichen weitestgehend binnenmarktähnliche Verhältnisse:
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Für den Warenverkehr gilt nach dem Freihandelsabkommen von 1972 das Verbot von Zöllen und Abgaben gleicher Wirkung sowie das Verbot von mengenmäßigen Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung. Die bilateralen Abkommen I haben zudem technische Handelshemmnisse durch die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen beseitigt, die Gleichwertigkeit der Vorschriften bezüglich landwirtschaftlicher Produkte hergestellt und den Zugang von Lieferanten zu öffentlichen Beschaffungsaufträgen eröffnet.
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Für den Dienstleistungsverkehr gibt es bisher keine vergleichbar umfassenden Regelungen. Weder das Freihandelsabkommen von 1972 noch die bilateralen Abkommen I sehen eine generelle Liberalisierung vor. Immerhin hat aber das Abkommen über Freizügigkeit die Möglichkeit eröffnet, dass Dienstleistungsunternehmen (einschließlich Gesellschaften) zumindest kurzfristig (bis zu 90 Tagen) grenzüberschreitend Dienstleistungen erbringen können. Weitergehende Bestimmungen gelten für den Luftverkehr sowie den Güter- und Personenverkehr auf Schiene und Straße. Zudem wird der Zugang von Leistungserbringern zum öffentlichen Beschaffungswesen in wichtigen Bereichen gewährleistet.
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Einen erheblichen Liberalisierungsschritt haben die bilateralen Abkommen I im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit mit sich gebracht. Das Abkommen über Freizügigkeit hat die Zutrittsbarrieren zu den Märkten für Arbeitsleistungen weitgehend beseitigt. Auch die Niederlassungsfreiheit von selbstständig Gewerbetreibenden hat das Abkommen über Freizügigkeit weitgehend verwirklicht. Sie erfasst aber nur „Staatsangehörige“ und somit nicht Gesellschaften und andere juristische Personen.
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Im Hinblick auf den Kapitalverkehr fehlt es an einer abkommensrechtlichen Marktöffnung. Das Abkommen über Freizügigkeit hat immerhin die Möglichkeit des Immobilienerwerbs eröffnet. Im Übrigen ist die Freiheit des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs aber sowohl von Seiten der EU durch das Unionsrecht (Art. 63 Abs. 2 AEUV) als auch von Seiten der Schweiz durch innerstaatliche Bestimmungen gewährleistet.
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Innerhalb der EU sind die Abkommen mit der Schweiz Bestandteil des Unionsrechts. Ihre Bestimmungen sind unmittelbar anwendbar. Natürliche und juristische Personen aus der EU oder der Schweiz können sich somit in der EU auf die Bestimmungen zur Marktöffnung berufen, sofern sie klare und eindeutige Verpflichtungen enthalten, deren Erfüllung oder deren Wirkung nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängen.[21] Für die Schweiz gilt grundsätzlich dasselbe.[22] Allerdings hat das Bundesgericht im Fall des Freihandelsabkommens von 1972 diese Voraussetzungen als nicht erfüllt angesehen.[23]
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Anders als es im Fall eines Beitritts der Schweiz zum EWR der Fall gewesen wäre, wird das Unionsrecht im Rahmen der bilateralen Abkommen nicht generell und automatisch übernommen. Daher ist nicht gewährleistet, dass die in den bilateralen Abkommen verwendeten Begriffe, selbst wenn sie mit den entsprechenden unionsrechtlichen Begriffen übereinstimmen, dieselbe Bedeutung wie im Unionsrecht haben.[24] Allerdings finden sich in einigen bilateralen Abkommen durchaus Ansätze für eine Übernahme des Unionsrechts und die Maßgeblichkeit der EuGH-Rechtsprechung für die Auslegung (acquis communautaire). Die Schweiz hat im Übrigen ihr innerstaatliches Recht autonom dem Gemeinschaftsrecht angepasst (sog. autonomer Nachvollzug), soweit dies zur Erleichterung des Wirtschaftsverkehrs mit der EU erforderlich erschien.
2. Nachbarschaftsstaaten
Literatur:
Verny Europa-Abkommen, in: Dauses (Hrsg.) Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (Loseblatt), Abschnitt K.IV.; Hummer Die Union und ihre Nachbarn – Nachbarschaftspolitik vor und nach dem Verfassungsvertrag, integration 2005, 233; Jünemann Zehn Jahre Barcelona-Prozess: Eine gemischte Bilanz, APuZ 2005, 233; Jacob Die Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten sowie Tunesien, Marokko und Algerien (2006); Bendiek Wie effektiv ist die Europäische Nachbarschaftspolitik? Sechzehn Länder im Vergleich, SWP-Studie 2008; Ferrero-Waldner Die Europäische Nachbarschaftspolitik – Sicherheit und Wohlstand durch Vernetzung, in: Politische Studien 60 (2009), Themenheft 1/2009, 1 ff.; Lippert Europäische Nachbarschaftspolitik, in: Jahrbuch der europäischen Integration 2009, 163; Böttger Im Osten nichts Neues? Ziele, Inhalte und erste Ergebnisse der östlichen Partnerschaft, integration 2009, 372; dies. Die Entstehung und Entwicklung der Europäischen Nachbarschaftspolitik (2010); Nowak Multilaterale und bilaterale Elemente der EU-Assoziations-, Partnerschafts- und Nachbarschaftspolitik, EuR 2010, 746; Dörrenbächer/Bochmann Die Donaustrategie der europäischen Union: Die Sichtweisen Kiews und Chisinaus, Friedrich Naumann Stiftung, Hintergrundpapier Nr. 3/Februar 2011; Schmalenbach Assoziierung und Erweiterung, in: von Arnauld (Hrsg.) Europäische Außenbeziehungen [Enzyklopädie Europarecht, Bd. 10] (2014) § 6, 321, Rn. 32; Kotzur Europäische Nachbarschaftspolitik, in: von Arnauld (Hrsg.) Europäische Außenbeziehungen [Enzyklopädie Europarecht, Bd. 10] (2014) § 7, 321; Semertzi The preclusion of direct effect in the recently concluded EU Free Trade Agreements, CMLR 2014, 1125; Bieber/Epiney/Haag/Kotzur Die Europäische Union (12. Aufl. 2016) § 36 D.: „Mittelmeer-Partnerschaft“, 691 / § 36 E.: Besondere bilaterale Beziehungen zu europäischen Staaten, 692.
a. Europa-Mittelmeer-Partnerschaft
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Eine besondere Gruppe aufgrund von Freihandelsabkommen assoziierter Staaten bildeten traditionell die Mittelmeeranrainer, genauer: die Staaten des Maghreb (Algerien, Marokko, Tunesien) und des Maschrek (Ägypten, Libanon, Jordanien, Syrien sowie die palästinensischen Autonomiegebiete) sowie Israel. Mit ihnen hat die EU schon vergleichsweise früh entwicklungspolitisch motivierte Assoziierungsabkommen abgeschlossen. Die ersten Abkommen stammen – nach vereinzelten Vorläufern – aus den Jahren 1976/77.[25] Vertragspartner der EU waren allerdings nicht – wie im Fall der AKP-Staaten – die genannte Staatengruppe insgesamt, sondern jeder Staat für sich. Dennoch stimmten die Abkommen inhaltlich im Wesentlichen überein. Der handelspolitische Kern der Abkommen bestand in der weitgehenden Abschaffung von Zöllen und Abgaben gleicher Wirkung sowie von mengenmäßigen Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung bei der Einfuhr von Rohstoffen und gewerblichen Produkten mit Ursprung in den Maghreb- und Maschrek-Staaten in die EG. Diese Abkommen verlangten keine Reziprozität, sondern sahen – entsprechend ihrer entwicklungspolitischen Ausrichtung – nur eine asymmetrische Marktöffnung der EG gegenüber den Vertragsstaaten vor.
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Inzwischen hat sich ein grundlegender Wandel der handelspolitischen Beziehungen zu den Mittelmeeranrainern vollzogen. 1995 kam es aufgrund der Barcelona-Konferenz der EU-Mitgliedstaaten und der Mittelmeeranrainer zu einer Neuorientierung der gemeinschaftlichen Mittelmeerpolitik („Barcelona-Prozess“). Sie zielt nunmehr auf eine umfassende reziproke Marktöffnung durch Errichtung eines Euro-Mediterranen Wirtschaftsraums (Euro-Mediterranean Economic Area – EMEA). Er soll den Charakter einer echten Freihandelszone haben. Ausdruck dieser Strategie war zunächst eine neue Generation bilateraler Assoziierungsabkommen (Europa-Mittelmeer-Abkommen), von denen insbesondere die Abkommen mit Tunesien,[26] Marokko,[27] Israel,[28] Ägypten,[29] Algerien[30] und Libanon[31] bereits in Kraft getreten sind.
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2008 mündete diese Entwicklung in das Projekt einer „Mittelmeerunion“, die als multilateralisierte