Strafrecht Besonderer Teil. Teilband 1. Reinhart Maurach
ZRP 91, 380) als eine der wenigen Regelungen des DDR-Rechts beibehalten. Angesichts des entgegenstehenden BVerfG-Urteils (s.o. Rn. 16) musste durch den Einigungsvertrag eigens ein neuer Art. 143 in das GG eingefügt werden, wonach das im Beitrittsgebiet geltende Recht bis zum 31.12.1992 vom GG abweichen dürfe. Daraufhin begann ein neues Ringen. Die Anhänger einer strengeren Indikationenlösung standen von vornherein auf verlorenem Posten; auch die Ersetzung der Beratung durch ein „obligatorisches, stark armiertes Krisenmanagement“ (Einbeziehung der Angehörigen und des Erzeugers, konkretes Hilfsangebot; Schünemann ZRP 91, 379) konnte sich nicht durchsetzen. Stattdessen setzte ein erbitterter Kampf gegen die Beratung als letzte Einschränkung der Fristenlösung ein. Auch Esers „notlagenorientiertes Diskursmodell“ (ZRP 91, 291 u. öfter) stellte nur scheinbar auf eine Notlage der Schwangeren ab, da es die Entscheidung darüber allein ihr überließ. Nach langen, erbitterten Beratungen erging am 27.7.1992 das G zum Schutz des vorgeburtlichen/werdenden Lebens, zur Förderung einer kinderfreundlicheren Gesellschaft, für Hilfen im Schwangerschaftskonflikt und zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs (Schwangeren- und Familienhilfegesetz), – schon der Umfang des Titels des Gesetzes und die Verwendung gleichberechtigter Alternativbegriffe bezeugen den Kompromisscharakter[27]. Das Gesetz schloss die Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruchs aus, wenn er in den ersten 12 Wochen seit der Empfängnis und nach Vornahme einer Beratung erfolgte, und gewährte einen Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung[28]. Die kriminogene und die Notlagenindikation wurden als überflüssig aufgegeben.
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Die starke Einschränkung des strafrechtlichen Schutzes des Embryos im Mutterleib war umso bemerkenswerter, als der Gesetzgeber kurz zuvor in dem Embryonenschutzgesetz vom 13.12.1990 einen sehr weitgehenden Schutz des Embryos in vitro eingeführt hatte (näher u. § 7)[29].
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Auf Antrag der Bayerischen Staatsregierung sowie von 249 Bundestagsabgeordneten stoppte das BVerfG mit Urteil vom 4.8.1992 das Inkrafttreten dieser Vorschriften (BVerfGE 86, 390) und erklärte mit Urteil vom 28.5.1993 den Ausschluss der Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruchs und die fehlende Ausrichtung der vorgesehenen Beratung auf den Lebensschutz (§§ 218a Abs. 1, 219 i.d.F. des SFHG), den Versicherungsanspruch sowie die Aufhebung der Meldepflicht für die Statistik wegen Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG für verfassungswidrig und nichtig (BVerfGE 88, 203).
In einer Vollstreckungsanordnung bestätigte das BVerfG jedoch, dass der Schwangerschaftsabbruch ab 16.6.1993 bei Vornahme innerhalb von 12 Wochen nach der Empfängnis durch einen Arzt nach einer vorangehenden Beratung nicht strafbar war, und charakterisierte diese Straflosigkeit im Anschluss an Äußerungen in den Entwurfsbegründungen[30] als „Herausnahme aus dem Straftatbestand“, als „Tatbestandsausschluss“ (BVerfGE 88, 273 f.) und umschrieb sie als „keine Anwendung finden“ des § 218 (210); es stellte für die Beratung eigene Erfordernisse auf. Trotz des spektakulären Eingriffs in die Gesetzgebung war das Ergebnis des Verfahrens minimal und der Unterschied zum ersten Schwangerschaftsabbruchsurteil BVerfGE 39, 1 (s.o. Rn. 16) eklatant[31].
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Anfang 1994 legten die Bundestagsfraktionen neue Gesetzentwürfe vor[32]. Der durch den Sonderausschuss „Schutz des ungeborenen Lebens“ überarbeitete Entwurf der CDU/CSU u. FDP[33] scheiterte im Bundesrat. Am 21.8.1995 wurde schließlich das von einer breiten Mehrheit getragene Schwangeren-Familienhilfeänderungsgesetz verkündet und trat am 1.10.1995 in Kraft[34]. Auf seinem Art. 8 beruhen die geltenden §§ 218–219 StGB.
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Der Freistaat Bayern hat versucht, den Schutz des werdenden Lebens durch zusätzliche flankierende Verbote zu ergänzen (SchwangerenhilfeergänzungsG vom 9.8.96: Begrenzung der Einnahmen aus Schwangerschaftsabbrüchen auf ein Viertel der Gesamteinnahmen im Kalenderjahr; Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs nur durch bestimmte Personen und in bestimmten Einrichtungen). BVerfGE 98, 265 hat den „bayerischen Sonderweg“ wegen Verstoß gegen Art. 12 GG und fehlender Kompetenz für nichtig erklärt[35].
Infolge des zunehmenden Abbaus des Schranken für den Schwangerschaftsabbruch sind die Verstöße extrem zurückgegangen; 2014 erfolgten noch ganze 4 Verurteilungen.
Anmerkungen
Lackner NJW 76, 1233 ff.; Schreiber FamRZ 75, 673; Gössel JR 76, 4 ff.; Rudolphi/Rogall SK Vor § 218 19; Beulke FamRZ 76, 596 ff.; Hiller/Hiersche Dt. Ärztebl. 78, 781; Esser ArztR 81, 260, 295; Geiger Jura 87, 60.
Arndt/Erhard/Funcke, o. Anm. 11; Schroeder ZRP 72, 105.
EuGRZ 77, 423; 78, 186, 199; eingehend Reis JZ 81, 738. Darstellung der Auseinandersetzung zwischen SPD und katholischer Kirche um das neue Recht bei Tallen, Die Auseinandersetzung über § 218 StGB, 1977. Zur Reform v. Hippel JZ 86, 53. Eingehender Bericht über die Erfahrungen mit der Neuregelung in BTD 8/3630 und 8/4160. Ferner Mat. zum Bericht der Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten § 218 StGB, Bd. I–III (Schriftenreihe des BMJFG, Bd. 92/1–3, 1981–82).
SA-Berat. 7/2397; BTD 7/4696 S. 7; Laufhütte/Wilkitzki JZ 76, 331. Vgl. auch G über ergänzende Maßnahmen zum 5. StrRG – StREG.
So Schmitt JZ 75, 357; Esser MedR 81, 260, 295 und MedR 83, 57; Gritschneder MedR 84, 100; Bosch FamRZ 84, 262; Müller NJW 84, 1798; Geiger FamRZ 86, 1 und Jura 87, 60; Tröndle Jura 87, 66 und ZRP 89, 58; Belling, Ist die Rechtfertigungsthese zu § 218a StGB haltbar?, 1986; BayObLG NJW 90, 2331; eingehend Dr/Tr 46 Vor § 218 8a–i.
So in der Tat Belling 144.
Roxin JA 81, 229; Jähnke LK10 vor § 218, 22, Hirsch Bockelmann-Fschr. 1979, 100; Gropp GA 88, 1; LAG Hamm NStZ 87, 507; BGH 38, 158.
Arth. Kaufmann JuS 78, 366: Rechtsfreier Raum; Sax JZ 77, 326: fehlende Strafwürdigkeit; Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983, 314: bloße Strafrechtmäßigkeit; Kluth FamRZ 85, 444: Sanktionierung durch die Beratungspflicht; Otto JR 90, 344: objektiver Strafausschließungsgrund.
R. Hofmann, „Memmingen“ – ein Medienprodukt, Zschr. f. Politik, 93, 1; eingehende, aber einseitige Darstellung bei Pro Familia (Hrsg.), Memmingen: Abtreibung vor Gericht, 1989; G. Friedrichsen, Abtreibung, 1989; Vultejus (Hrsg.), Das Urteil von Memmingen, 1990.
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