Strafrecht Besonderer Teil. Teilband 1. Reinhart Maurach
BGH 21, 44 m. Anm. Dreher JZ 66, 580.
RG 66, 73: Obhutspflicht auch des nichtehelichen Vaters; BGH NStZ 94, 84 m.Anm. Hoyer: Hilfsbemühungen eines Außenstehenden mit wesentlicher Situationsveränderung (nach OLG Stuttgart NStZ 09, 102 Risikoerhöhung).
BGH NJW 54, 1047; BayObLG NJW 53, 556; OLG Oldenburg NJW 61, 1938; OLG Düsseldorf NJW 66, 1175.
BGH 25, 218 m.Anm. Rudolphi JR 74, 160.
S. auch Jähnke LK11 29 unter Rückgriff auf Dreher JZ 73, 323: räumliches Näheverhältnis muss jedenfalls vor zulässiger Entfernung bestanden haben.
1. Konkrete Gefährdung
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§ 221 Abs. 1 verlangt nunmehr ausdrücklich, dass der Täter das Opfer der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt. Der Begriff der „schweren Gesundheitsschädigung“ wurde aus § 218 Abs. 2 und § 330 Abs. 2 Nr. 1 übernommen und umfasst neben den Folgen der „schweren Körperverletzung“ nach § 226 (s.u. § 9 Rn. 21 ff.) auch das Verfallen in eine ernste langwierige Krankheit oder die erhebliche Beeinträchtigung der Arbeitskraft (BT-Dr 13/8587 S. 27 f.). Der Tatbestand ähnelt daher – bis auf die Ausklammerung der „fremden Sachen von bedeutendem Wert“ – den allgemeinen Gefährdungsstraftaten der §§ 307 ff. (s. Tlbd. 2 § 50)[15]. Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn der Eintritt eines Schadens wahrscheinlicher ist als sein Ausbleiben, das Ausbleiben eines Schadens nur noch als Zufall erklärt werden kann, schon eine geringfügige Änderung der Umstände mit Sicherheit zum Eintritt eines Schadens geführt hätte (näher Tlbd. 2 § 30 Rn. 21 f.). Die Intensivierung einer bereits bestehenden Gefahr genügt[16], nicht aber die Ersetzung einer bereits bestehenden Gefahr durch eine andere[17].
Anmerkungen
Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf ordnen ihn daher dort ein (§ 36).
BT-Dr. 13/9064 S. 14; RG 59, 388; OLG Zweibrücken NStZ 97, 601.
Unzutr. BGH NStZ 94, 85 mit abl. Anm. Hoyer: Erfrierenlassen eines Mädchens mit möglicherweise tödlicher Heroindosis.
2. Der subjektive Tatbestand
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§ 221 Abs. 1 verlangt volle Kongruenz. Nr. 2 verlangt daher eine Kenntnis der die Beistandspflicht begründenden Umstände (die Kenntnis der daraus entspringenden Hilfeleistungspflicht gehört dagegen zum Unrechtsbewusstsein, BGH 16, 155). Der Täter muss ferner die lebens- oder gesundheitsgefährdende Wirkung seines Verhaltens mindestens bedingt in Kauf nehmen (BGH StV 86, 201 m. Anm. Ulsenheimer). Zu den Einwänden gegen die Möglichkeit eines bedingten Gefährdungsvorsatzes Tlbd. 2 § 50 Rn. 29.
3. Rechtfertigung
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Eine Einwilligung beseitigt die Rechtswidrigkeit, da eine Einwilligung in eine bloße Lebensgefährdung wirksam ist[18]. Bei einer Entfernung, um Hilfe zu holen, liegt schon tatbestandsmäßig kein Im-Stich-Lassen vor (a.A. Jähnke LK 35). Wird der Hilfsbedürftige seinerseits aggressiv, so kann die Flucht des Obhutspflichtigen durch Notwehr gerechtfertigt sein.
Anmerkungen
Schroeder JuS 94, 848. A.A. Jähnke LK11 35.
4. Konkurrenzen
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Im Verhältnis zu § 142 (Verkehrsunfallflucht, praktisch häufig) besteht mit Rücksicht auf die Verschiedenheit der geschützten Güter (s. Vorauflage § 49 Rn. 6) Idealkonkurrenz. Ebenfalls Idealkonkurrenz besteht gegenüber § 223 (BGH 4, 113), während (auch nur bedingter) Tötungsvorsatz den Aussetzungsvorsatz absorbiert (RG 68, 407[19]). Im Verhältnis zu § 323c (unterlassene Hilfeleistung, s. Tlbd. 2, § 55) und zu § 171 (Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht, s. Tlbd. 2 § 63 IV) nimmt die h.L. meist Gesetzeskonkurrenz mit Vorrang des § 221 an; richtiger ist es, auch in diesen Fällen Idealkonkurrenz zuzulassen.
Anmerkungen
Anders bei Zäsur, BGH NStZ 02, 432. – Ist ein Tötungsvorsatz möglich, aber nicht nachweisbar, so ist nach BGH JR 99, 294 wegen doppelter Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ eine Verurteilung weder nach § 212 noch nach § 221 möglich (scharf abl. Stein JR 99, 265: Problem der Konkurrenzlehre).
5. Die Qualifikationen (§ 221 Abs. 2–4)
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Die Tat wandelt sich zum Verbrechen, wenn der Täter sie gegen sein Kind oder eine Person begeht, die ihm zur Erziehung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist (Abs. 2 Nr. 1). „Eigene“ Kinder sind auch nichteheliche oder Adoptivkinder; „Kinder“ sind analog § 174 Abs. 1 Nr. 3 unter 18-Jährige[20]. Die Qualifikationsmerkmale der Anvertrauung zur Erziehung oder zur Betreuung in der Lebensführung stammen aus § 174 (s.u. § 20 Rn. 25, 27).
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Die Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 3 enthalten Erfolgsqualifikationen. Insoweit ist nach § 18 Fahrlässigkeit erforderlich, aber auch ausreichend. Hier besteht aber die Besonderheit, dass bereits der Grundtatbestand eine vorsätzliche Gefahrherbeiführung verlangt (s.o. Rn. 13)[21]. Zur „schweren Gesundheitsschädigung“ s. § 6 Rn. 38.
§ 221 Abs. 4 sieht wiederum eine Strafmilderung für minder schwere Fälle der Qualifikationen vor[22].
Anmerkungen
Anders lässt sich die Nichtberücksichtigung des Handelns von Kindern gegenüber ihren Eltern nicht begründen (Sternberg-Lieben/Fisch Jura 99, 49). Ohne Altersbegrenzung Jähnke LK11 37.
Hierzu Schroeder FS Lüderssen 602 f.