Ius Publicum Europaeum. Paul Craig
In eine vergleichbare Richtung zielt der an britische Traditionen anknüpfende, eher kulturell inspirierte Versuch, die Verwaltung weniger als gemeinwohlverpflichtete Obrigkeit zu begreifen, denn als Dienstleisterin am Bürger, wie dies paradigmatisch in der Dienstleistungsrichtlinie (Richtlinie 123/2006/EG) zum Ausdruck kommt, aber auch in den (verwaltungsinternen) chartes, die in Frankreich die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen dem service public und seinen Nutzern zum Gegenstand haben.[417] Auf diese Weise wird der Bürger ein Stück mehr zu einem Partner der Verwaltung auf Augenhöhe.
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Es passt in dieses Bild, dass die italienische Verfassung ein horizontales Subsidiaritätsprinzip anordnet, nach dem die Verwaltung „die autonome Initiative sowohl einzelner Bürger als auch von Vereinigungen bei der Wahrnehmung von Tätigkeiten im allgemeinen Interesse fördert“ (Art. 118 Abs. 4 Cost.). Das zielt darauf ab, den Bürger vom einfachen Adressaten der Verwaltungstätigkeit zu einem aktiven Rechtssubjekt und Förderer von Tätigkeiten zu Gunsten der Allgemeinheit zu machen.[418]
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Im modernen europäischen Verwaltungsrecht ist der Einzelne so mehr und mehr zum entscheidenden Bezugspunkt des Verwaltungshandelns avanciert. Das ist vielleicht noch nicht überall hinreichend präsent. Im deutschen Verwaltungsrecht, das in besonderer Weise durch die Hervorbringung des Rechtsstaats geprägt ist, wird Verwaltung bis heute weniger als Konkretisierung demokratischer Selbstbestimmung begriffen, denn als obrigkeitliche Bedrohung individueller Freiheit.[419] Dass dieser Grundansatz die Wirklichkeit nicht mehr (vollständig) erfasst, zeigt sich jedoch am tendenziellen Rückgang einseitiger und dem Ausbau konsensualer Handlungsformen, an der Aufwertung des Einzelnen im Verwaltungsverfahren, dem Ausbau der Informationsfreiheitsrechte und den Transparenzanforderungen an das Verwaltungshandeln. Die Verabschiedung der Figur des „administré“ im französischen Verwaltungsrecht[420] ist, so gesehen, weit mehr als eine bloß semantische Neuerung. Sie ist Ausdruck einer grundlegenden Neuausrichtung des Verwaltungsrechts, in dem Über- und Unterordnungsvorstellungen von Staat und Bürger nicht mehr zeitgemäß erscheinen.
3. Das Recht auf gute Verwaltung – Art. 41 GRCh als benchmark
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Soweit der Grundsatz der guten Verwaltung nicht ohnehin als Erbe der eigenen Verwaltungsrechtsordnung wahrgenommen wird,[421] herrscht in den meisten Verwaltungsrechtsordnungen die Auffassung vor, dass die Statuierung des Rechts auf gute Verwaltung in Art. 41 GRCh im eigenen Verwaltungsrecht keinen nennenswerten Anpassungsbedarf auslöst, ja dass sein Schutzgehalt hinter dem nationalen Recht zurückbleibe. Dieses gewährleiste – mitunter als verfassungsrechtliche Anforderung – eine unparteiische und gerechte Behandlung einer Sache innerhalb einer angemessenen Frist (Art. 41 Abs. 1 GRCh) bereits ebenso wie die Anhörung der Betroffenen, Akteneinsicht, den Anspruch auf eine Begründung (Art. 41 Abs. 2 GRCh) oder eine ausreichende Amtshaftung (Art. 41 Abs. 3 GRCh); gehe es darüber hinaus.[422]
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Gleichwohl ist die rechtspolitische Bedeutung von Art. 41 GRCh nicht zu unterschätzen. Denn obwohl sich das Recht auf gute Verwaltung primär an die Unionsorgane richtet und an die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh), wirkt es doch als „benchmark“ für die Modernisierung des nationalen Verwaltungsrechts.
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Das gilt einerseits mit Blick auf die – freilich diffuse – Subjektivierung des Rechts auf gute Verwaltung. So wird es etwa in Italien neuerdings kritisch gesehen, dass bei der Rechtsetzung der Verwaltung und dem Erlass von Plänen keine der Rechtslage bei eingreifenden Verwaltungsakten vergleichbaren Verfahrensgarantien existieren oder das Akteneinsichtsrecht alleine auf den Rechtsschutz ausgerichtet ist.[423] Andererseits gewinnen über Art. 41 GRCh auch weiche Faktoren wie Bürgerorientierung, Kommunikationsbereitschaft, ethische Standards, Effektivität und Wirtschaftlichkeit der Verwaltungsführung einen – rechtlich noch nicht abschätzbaren – Stellenwert.[424] Diese können dazu beitragen, die mit Europäisierung, Internationalisierung und Privatisierung von Verwaltungsaufgaben verbundenen Nachteile für den Einzelnen auszugleichen oder doch zu begrenzen.
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Bei alledem besteht allerdings die Gefahr, dass unter Berufung auf das diffuse („tentakelartige“) Konzept der guten Verwaltung die Grenzen der Anpassungsfähigkeit der nationalen Verwaltungsrechtsordnungen aus dem Blick geraten und der Wandel des Verwaltungsrechts, seiner Institutionen und Systemerfordernisse nicht mehr in einem Sinne bewältigt werden kann, der Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung aller Bürger gewährleistet.
4. Konvergenz und Subsidiarität
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Die Europäisierung des nationalen Verwaltungsrechts mag in einem ersten Schritt duale Regelungsregime[425] hervorbringen, weil Verwaltungsrechtsordnungen zunächst dazu tendieren, die mit der Europäisierung verbundenen Anpassungszwänge „minimalinvasiv“ zu verarbeiten. Auf längere Sicht dürften die Ableitung der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts aus dem nationalen Verwaltungsrecht und ihre Rückwirkung auf dieses[426] sowie die Einbindung der nationalen Verwaltungen und der (Verwaltungs-)Gerichte in den europäischen Verwaltungs- und Gerichtsverbund jedoch auch aufgrund sogenannter spill-over-Effekte zu einer weiteren Konvergenz der unionalen und nationalen Verwaltungsrechtsordnungen führen.[427]
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Das bedeutet freilich nicht, dass eine immer stärkere Konvergenz der europäischen Verwaltungsrechtsordnungen rechtlich zulässig und rechtspolitisch wünschenswert wäre. In rechtlicher Hinsicht stehen das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 1 und 3 EUV), die Verpflichtung der Europäischen Union, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten (Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV), und, als Teil davon, der Grundsatz der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie einer ungebremsten Harmonisierung des Verwaltungsrechts im europäischen Rechtsraum vielmehr entgegen.[428] In rechtspolitischer Hinsicht spricht auch der drohende Verlust der mit einem föderalen und deshalb auf Vielfalt angelegten System verbundenen Möglichkeit, bürgernahe Lösungen dezentral zu entwickeln und sie nach dem Grundsatz des trial and error zu erproben, gegen eine zu detailversessene Harmonisierung des Verwaltungsrechts. Mehr als bisher wird es deshalb darauf ankommen, die richtige Balance zwischen Einheit und Vielfalt zu finden.
Einführung › § 73 Grundzüge des Verwaltungsrechts in Europa – Problemaufriss und Synthese › IX. Herausforderungen für das Verwaltungsrecht
IX. Herausforderungen für das Verwaltungsrecht
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Internationalisierung, Europäisierung und Privatisierung lassen die Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht zunehmend verschwimmen. Sie stellen das sogenannte rechtsstaatliche Verteilungsprinzip in Frage und könnten – in den Grenzen des verfassungsrechtlich jeweils Zulässigen – das Verwaltungsrecht in dogmatischer Hinsicht zu einer Annäherung an das Zivilrecht zwingen.
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In methodischer Hinsicht scheint auch der überkommene juristische Methodenkanon nicht mehr ausreichend, um die kaum mehr überschaubare Vielfalt von Rechtsquellen und Akteuren zu erfassen und die Steuerungsfähigkeit des Verwaltungsrechts zu erhalten. Die (politische) Steuerung der Verwaltung durch das Verwaltungsrecht ist angesichts der immer hybrideren und ebenenübergreifenden Verwaltungsstrukturen offenkundig defizitär. Eine leistungsfähige Verwaltungsrechtspflege wird daher im Sinne des Governance-Ansatzes die komplexen Regelungsstrukturen, auf die sie trifft, analysieren und das Zusammenwirken der unterschiedlichen Akteure sowie ihre ökonomischen, politischen, religiösen