Ius Publicum Europaeum. Paul Craig
Handhabung der Zulässigkeitsvoraussetzung des intérêt à agir eine extrem großzügige Linie verfolgen, mit der Folge, dass die Hürden für die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes eher niedrig sind.[353] Ähnlich ist die Rechtslage in Polen.[354]
b) Vorläufiger Rechtsschutz
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Ein effektiver Individualrechtsschutz erfordert auch einen hinreichend wirkungsvollen vorläufigen Rechtsschutz. Dazu gehört nach deutschem Verständnis, dass Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsakte grundsätzlich einen Suspensiveffekt entfalten[355] und im Hinblick auf ein Unterlassen der Verwaltung (einstweilige) gerichtliche Regelungs- und Sicherungsanordnungen möglich sind. Nach französischem Verwaltungsprozessrecht kann der Richter (vorläufige) Anordnungen treffen (Art. L 521–1 und L 521–2 CJA) oder die zeitliche Wirkung einer Aufhebungsentscheidung modifizieren.[356]
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Die nationale Ausgestaltung des vorläufigen Rechtsschutzes ist in den vergangenen Jahren vielfach unter den Druck der Europäisierung geraten, was teils zu einer Erweiterung, teils aber auch zu einem Abbau von Rechtsschutzstandards geführt hat. So sind in Deutschland, soweit es um den Vollzug des Unionsrechts geht,[357] etwa Einschränkungen des Suspensiveffekts bei Rechtsbehelfen gegen Verwaltungsakte sowie der Entscheidungsbefugnisse der Verwaltungsgerichte bei Verpflichtungs- und Leistungsklagen zu verzeichnen, während es in Italien zu einer Ausweitung des einstweiligen Rechtsschutzes auch gegenüber öffentlich-rechtlichen Verträgen gekommen ist.[358]
c) Sekundärrechtsschutz
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Die Bürger haben in der Regel nicht die Wahl zwischen primär- und sekundärrechtlichen Ansprüchen. Es gilt insoweit der Vorrang des Primärrechtsschutzes; ein „dulde und liquidiere“ kennen die meisten europäischen Verwaltungsrechtsordnungen nicht.[359]
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Andererseits gehört die Ausweitung des Rechtsschutzes auf die Sekundäransprüche zu den moderneren Entwicklungen des Verwaltungsrechts. Das französische und das griechische Verwaltungsrecht gehen insoweit etwa von einer verschuldensunabhängigen Haftung der Verwaltung für Schäden aus, die durch ihr Handeln verursacht werden.[360] Sie wird teils als Gefährdungshaftung konstruiert, teils aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz abgeleitet. Das deutsche Verwaltungsrecht ist in dieser Hinsicht dagegen noch nicht auf der Höhe der Zeit.
aa) Allgemeines
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Substantielle Unterschiede bestehen zwischen den Verwaltungsrechtsordnungen im europäischen Rechtsraum auch was die Dichte der gerichtlichen Kontrolle des Verwaltungshandelns anlangt. Während die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung in Schweden Recht- und Zweckmäßigkeit umfasst,[361] sie in Deutschland aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben (Art. 19 Abs. 4 GG) durch eine weitgehende Identität von Handlungs- und Kontrollnorm gekennzeichnet ist,[362] beschränkt sie sich in Frankreich, Italien und anderen Verwaltungsrechtsordnungen – ähnlich dem Unionsrecht (Art. 263 Abs. 2 AEUV) – traditionell auf die Prüfung bestimmter Klagegründe.[363] In der gerichtlichen Praxis sind diese Klagegründe allerdings vielfältig erweitert worden; zudem überschneiden sie sich auch, so dass es auf die genaue Zuordnung einer Rüge in der Regel nicht (mehr) entscheidend ankommt.
bb) Regierungsakte und besondere Gewaltverhältnisse
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Regierungsakte (actes de gouvernement) unterliegen in einigen Verwaltungsrechtsordnungen keiner oder nur einer sehr eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle, sei es, dass sie dieser von vornherein entzogen sind, sei es, dass der Exekutive ein gerichtlich nicht kontrollierbarer Spielraum eingeräumt wird.[364]
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Die Fälle, in denen ein bestimmter Verwaltungsbereich vollständig von der gerichtlichen Kontrolle ausgenommen ist, haben seit den 1970er-Jahren und der Verabschiedung des besonderen Gewaltverhältnisses in Schule, Strafvollzug, Militär und öffentlichem Dienst stark abgenommen.[365]
cc) Ermessen und andere Spielräume
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Alle Verwaltungsrechtordnungen in Europa kennen das Institut des Ermessens, also die Befugnis der Verwaltung, bei der Erfüllung ihrer Aufgaben eigene Präferenzentscheidungen zu treffen.[366] Solche Spielräume gibt es sowohl im Bereich der gesetzesakzessorischen als auch der gesetzesfreien Verwaltung, wobei teilweise nur mit Blick auf die gesetzesakzessorische Verwaltung von Ermessen gesprochen wird.[367] Die Einräumung von Ermessen und anderen Spielräumen bedeutet in der Sache eine Rücknahme der verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte und die Zuerkennung einer gerichtsfesten Prärogative zugunsten der Exekutive.
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In zahlreichen Verwaltungsrechtsordnungen markiert das Ermessen der Verwaltung geradezu den funktionalen Kern exekutivischer Gestaltungsaufgaben. In Frankreich hat das zur Folge, dass sich die verwaltungsgerichtliche Kontrolle von Ermessensentscheidungen auf offensichtliche Fehler bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage beschränkt (contrôle restraint).[368] In anderen Verwaltungsrechtsordnungen gilt grundsätzlich Vergleichbares; allerdings musste die gerichtliche Kontrolldichte vor allem unter dem Einfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips intensiviert werden.[369]
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Gerichtlich nicht kontrollierbaren Gestaltungsspielräumen der Verwaltung begegnet man in Deutschland, Italien[370] oder Österreich mit prinzipieller Skepsis. Ermessensentscheidungen werden hier auch auf die richtige Ermittlung der Tatsachenbasis und ihre Verhältnismäßigkeit hin überprüft.[371] Zudem hat man zur Gewährleistung einer möglichst intensiven gerichtlichen Kontrolle die Differenzierung zwischen unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessen entwickelt. Nach dieser – in Deutschland auf Otto Bachof zurückgehenden,[372] aber auch in Österreich, Polen, der Schweiz und wohl auch in Italien anzutreffenden – Unterscheidung unterliegen auf der Tatbestandsseite einer Norm anzusiedelnde unbestimmte Rechtsbegriffe wie „Gefahr“, „Zuverlässigkeit“, „schädliche Umwelteinwirkung“, „Denkmaleigenschaft“ etc. grundsätzlich einer vollständigen gerichtlicher Kontrolle. Beurteilungsspielräume, die zu einer Beschränkung der Kontrolldichte führen,[373] werden nur in engen Grenzen anerkannt.[374]
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Zudem haben Rechtsprechung und Literatur in allen Verwaltungsrechtsordnungen spezifische Grenzen des Ermessens herausgearbeitet und typische Ermessensfehler identifiziert, deren Vorliegen die – unterschiedlich dichte – gerichtliche Kontrolle überprüfen kann. Dazu gehören der Ermessensausfall, die Ermessensunter- und -überschreitung sowie der Ermessensmissbrauch (détournement de pouvoir, sviamento di potere[375]).[376]
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Mittel- und langfristig dürfte im Hinblick auf die gerichtliche Kontrolldichte des Verwaltungshandelns eine Konvergenz der Rechtsschutzsysteme zu erwarten sein. Während etwa das deutsche Verwaltungsrecht mit Figuren wie der normativen Ermächtigungslehre[377] den Bereich gerichtsfester Spielräume der Verwaltung vorsichtig ausgeweitet hat, zwingen in anderen Verwaltungsrechtsordnungen verfassungsrechtliche Anordnungen sowie Art. 6 und 13 EMRK und Art. 47 GRCh zu deren Reduzierung und zur Unterwerfung von Ermessensentscheidungen unter eine Verhältnismäßigkeitskontrolle.[378]
3. Klagearten und -gründe
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In den meisten Verwaltungsrechtsordnungen Europas steht der Verwaltungsakt bzw. seine Aufhebung